Glenarvan ergriff eine Feder, und nach einigen Augenblicken legte er seinen Freunden ein Blatt Papier vor mit folgendermaßen ergänzten Zeilen:
7 juin 1862 trois-mâts Britannia Glasgow
sombré gonie austral
à terre deux matelots
capitaine Gr abor
contin pr cruel indi
jeté ce document de longitude
et 37° 11' de latitude Portez-leur secours
perdus.
Die deutsche Übersetzung bringen wir nachher mit vollständiger Ergänzung des Sinnes.
In diesem Augenblick meldete ein Matrose dem Kapitän, der Duncan laufe in den Golf von Clyde ein, und begehrte seine Weisung.
»Was beabsichtigen Ew. Herrlichkeit? fragte John Mangles den Lord Glenarvan.
– So rasch wie möglich nach Dumbarton zu kommen, John; dann eile ich, während Lady Helena nach Malcolm Castle zurückkehrt, nach London, um dies Document der Admiralität vorzulegen.«
John Mangles ertheilte demgemäß seine Befehle, welche der Matrose dem Schiffslieutenant überbrachte.
»Jetzt, meine Freunde, sagte Glenarvan, fahren wir fort in unserer Forschung. Wir sind einem großen Unglück auf der Spur. Das Leben einiger Menschen hängt von unserm Scharfsinn ab. Also strengen wir unsern Verstand an, um das Räthselhafte der Sache klar zu bekommen.
– Wir sind bereit, lieber Edward, erwiderte Lady Helena.
– Für's Erste, fuhr Glenarvan fort, muß man drei sehr verschiedene Dinge bei diesem Document in's Auge fassen: 1) Was man weiß; 2) Was man vermuthen kann; 3) Was man nicht weiß. Was wissen wir? Wir wissen, daß am 7. Juni 1862 ein Dreimaster, der Britannia aus Glasgow, Schiffbruch gelitten hat; daß zwei Matrosen und der Kapitän diese Urkunde in's Meer geworfen haben unter'm 37° 11' Breite, und daß sie um Beistand rufen.
– Ganz richtig, versetzte der Major.
– Was können wir vermuthen? fuhr Glenarvan fort. Erstlich, daß der Schiffbruch in den Süd-Meeren stattfand, und ich will sogleich Ihre Aufmerksamkeit auf das Wortstück -gonie lenken. Zeigt sich uns darin nicht von selbst eine Angabe des Landes, worauf sich es bezieht?
– Patagonien! rief Lady Helena.
– Unstreitig.
– Aber zieht der siebenunddreißigste Breitegrad durch Patagonien? fragte der Major.
– Darüber können wir gleich in's Reine kommen, erwiderte John Mangles, und breitete eine Karte von Süd-Amerika aus. Ganz richtig: Der siebenunddreißigste Breitegrad streift an Patagonien an. Er schneidet Araucanien ab, zieht quer durch die Pampas längs dem Norden der patagonischen Lande, und verliert sich im Atlantischen Meer.
– Gut. Fahren wir fort zu vermuthen. Die beiden Matrosen und der Kapitän abor ... abordent , also landen, wo? contin ..., am Continent; merken wir, Festland, nicht Insel. Was ist aus ihnen geworden? Hier finden sich zwei verhängnißvolle Buchstaben pr ..., welche über ihr Schicksal belehren sollen. Die Unglücklichen sind in der That pris , gefangen. Von wem? Von grausamen Indianern – cruels Indiens . Sind Sie überzeugt? Springen nicht diese Worte von selbst ergänzend in die Lücken? Wird nicht das Document klar verständlich?«
Glenarvan sprach mit Ueberzeugung. Seine Augen erglänzten von unbedingter Zuversicht, und ihr Feuer theilte sich seinen Zuhörern mit. Sie riefen gleich ihm: »'s ist klar! Sonnenklar!«
Lord Edward fuhr nach einer kleinen Weile fort: »Alle diese Vermuthungen, meine Freunde, scheinen mir äußerst wahrscheinlich; meiner Ansicht nach hat das Unglück an den Küsten Patagoniens stattgefunden. Uebrigens will ich zu Glasgow anfragen, für welchen Bestimmungsort der Britannia abfuhr, und wir werden erfahren, ob er in jene Gegend verschlagen werden konnte.
– O! So weit brauchen wir nicht zu gehen um Auskunft, erwiderte John Mangles. Ich habe die Handels- und Schiffer-Zeitung in vollständiger Sammlung bei mir, die wird uns genaue Auskunft geben.
– Sehen wir, sehen wir!« sagte Lady Glenarvan.
John Mangles nahm also ein Bund Zeitungen von 1862 und durchblätterte sie rasch. Bald fand er schon, was er suchte, und las mit Befriedigung vor:
»30. Mai 1862. Peru! Callao! mit Ladung für Glasgow, Britannia , Kapitän Grant.
– Grant! rief Lady Glenarvan, der kühne Schotte, welcher im Stillen Ocean ein Neu-Schottland gründen wollte!
– Ja, erwiderte John Mangles, der nämliche, welcher im Jahr 1861 zu Glasgow auf dem Britannia unter Segel ging und nichts mehr von sich hören ließ.
– Kein Zweifel mehr! sagte Glenarvan. Der ist's gewiß. Der Britannia war aus Callao am 30. Mai abgefahren, und am 7. Juni, acht Tage nach seiner Abfahrt, ging er an den Küsten Patagoniens zu Grunde. In den scheinbar nicht zu entziffernden Wortresten ist vollständig enthalten, was ihm begegnet ist. Sie sehen, meine Freunde, daß wir doch einen hübschen Theil durch Vermuthung herausbekommen haben. Nur noch der Längegrad geht uns ab.
– Den brauchen wir gar nicht zu wissen, entgegnete John Mangles, weil das Land bekannt ist, und mit der Breite-Angabe allein nehme ich's auf mich, geraden Wegs auf den Schauplatz des Schiffbruchs hinzusteuern.
– Also wissen wir Alles? sagte Lady Glenarvan.
– Alles, liebe Helena, und ich will die Lücken, welche sich auf dem Document befinden, ohne Schwierigkeit ausfüllen, als wenn mir es der Kapitän Grant dictirt hätte.«
Und sogleich ergriff Lord Glenarvan die Feder, und schrieb folgende Notiz, welche zu deutsch lautet:
Am 7. Juni 1862 scheiterte der Dreimaster Britannia aus Glasgow in der südlichen Erdhälfte an der Küste Patagoniens. Zwei Matrosen und der Kapitän Grant versuchen auf dem Kontinent zu landen, wo sie in die Gefangenschaft grausamer Indianer gerathen werden. Sie haben dieses Document in's Meer geworfen unter'm... Grad Länge, und 37° 11' Breite. Kommt Ihnen zu Hilfe, sonst sind sie verloren.
»Gut! Gut! Lieber Edward, sagte Lady Helena, und wenn diese Unglücklichen wieder in ihre Heimat kommen, verdanken sie Dir dies Glück.
– Und sie werden wieder zurück kommen, erwiderte Glenarvan. Dies Document ist zu deutlich, zu klar und zuverlässig, als daß England zaudern sollte, dreien seiner auf einer öden Küste verlassenen Kinder zu Hilfe zu kommen. Was es für Franklin und so viele Andere gethan hat, wird es auch jetzt für die Schiffbrüchigen der Britannia thun!
– Aber diese Unglücklichen, erwiderte Lady Helena, haben ohne Zweifel Familien, welche ihren Verlust beklagen. Vielleicht hat der arme Kapitän Grant eine Frau, Kinder...
– Du hast Recht, liebe Lady, und ich übernehme es, sie wissen zu lassen, daß noch nicht alle Hoffnung verloren ist. Jetzt, meine Freunde, gehen wir wieder auf's Verdeck, denn wir sind am Eingang des Hafens.«
In der That, der Duncan war mit verstärktem Dampfe gefahren; eben fuhr er längs den Ufern der Insel Bute und ließ Rothesay mit seinem reizenden Städtchen im fruchtbaren Thale rechts; nachher drang er in die engeren Fahrwasser des Golfs, machte vor Greenock eine Schwenkung und ankerte um sechs Uhr Abends am Fuß des Basaltfelsens von Dumbarton, der mit dem berühmten Schloß des schottischen Helden Wallace gekrönt ist.
Hier wartete eine Postchaise auf Lady Helena, um sie mit dem Major Nabbs nach Malcolm-Castle zurückzubringen. Darauf umarmte Lord Glenarvan seine junge Frau und eilte mit einem Expreßzug nach Glasgow.
Aber vor seiner Abreise hatte er auf noch rascherem Wege eine wichtige Notiz befördert. Der Telegraph überbrachte in einigen Minuten der »Times« und dem »Morning Chronicle« eine Annonce, die lautete:
»Um Auskunft über das Schicksal des Dreimasters Britannia aus Glasgow, Kapitän Grant, wende man sich an Lord Glenarvan, Malcolm-Castle, Luß, Grafschaft Dumbarton, Schottland.«
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