Nelli sah in der Garage nach, ob das Auto hier noch stehen würde. Sie wusste nicht, warum sie da nachschaute. Das Garagentor war wie immer zugezogen, sie verschlossen es erst, wenn sie für einige Tage abwesend waren. Als Nelli schon wieder gehen wollte, fiel ihr Blick auf den Scheibenwischer. Dort war ein Brief eingeklemmt worden. Sie wunderte sich und dachte erst an ein Strafmandat und nahm den Umschlag ab, öffnete ihn und als sie die ersten Zeilen las, fiel sie in Ohnmacht. Sie schlug mit ihrem Kopf hart auf die Motorhaube auf und rutschte an dem Fahrzeug hinunter.
Eine halbe Stunde später kam der Zeitungsbote, der hier neben der Sonntagszeitung auch die Brötchen brachte. Er sah das offene Tor, sah die Beine hinter dem Auto herausragen. Er ging in die Garage und rief: „Hallo, Frau Döhring-Feyke? Was ist los?“ Er stellte seinen Zeitungskarren ab, beugte sich über Nelli und kam erschrocken wieder hoch. Sie hatte am Kopf eine Platzwunde, an der das Blut schon geronnen war. Über sein Handy rief der Zeitungsbote die Feuerwehr an und stellte sich in die Einfahrt, um den Rettungswagen einzuweisen. Nach zehn Minuten war der Rettungswagen mit dem Arzt vor Ort und sie leisteten erste Hilfe.
Nelli kam wieder zu sich und blickte sich verwirrt um. Es war schon ein gespenstischer Anblick. Das Blaulicht des Rettungswagens zuckte von dem Haus reflektierend zurück und einige Menschen wuselten um sie herum. Von weitem hörte man das Martinshorn und kurz danach kamen zwei Streifenwagen der Polizei um die Ecke. Der Streifenführer sprach kurz mit dem Arzt. Ein Sanitäter hatte ihr einen alten Läufer, den er in der Garage gefunden hatte, als Sitzkissen untergeschoben und sie hatte bereits eine warme Decke umgelegt bekommen. Der Arzt und der Streifenführer gingen neben ihr in die Hocke und der Polizist sprach sie behutsam und leise an: „Frau Döhring-Feyke, was ist passiert?“ Sie sah ihn an und der Zeitungsbote brachte ihr aus ihrer Küche einen heißen Kaffee. Er kannte die Familie und war schon des Öfteren zu einem ‚juristischen Plausch‘ für eine kurze Zeit im Haus bei Akke gewesen. Hier duzten sich alle, nur wenn Akke im Gericht hinter seinem Richtertisch saß, siezten sie ihn, er war ja dort eine Amtsperson. Insofern war dem Zeitungsboten bekannt, wo sich die Kaffeemaschine in der Küche befand.
Nelli nahm wie in Trance den Kaffee und langsam kamen nach und nach die Erinnerungen wieder. Sie erzählte, was vorgefallen war und erwähnte den Brief. „Danach wurde mir schwarz vor Augen und ich weiß nichts mehr“, sagte sie und sah sich suchend nach dem Brief um. Der Polizeibeamte bückte sich noch tiefer und sah unter dem Fahrzeug nach. Dort, fast vor dem rechten Vorderreifen, lag der Briefumschlag und etwas weiter der herausgenommene Brief. Der Beamte Herbert-Jörn Büchel nahm den Brief auf und blickte kurz irritiert zu Nelli, als sie aufgrund ihrer wiedergekommenen Erinnerung heftig zu weinen begann. Der Arzt und die Sanitäter blickten ihn gespannt an, als er laut vorlas: „Frau Nelli Döhrink-Veike. Wenn du diese Zeilen bekommst, haben wir in unseren Händen, was dir lieb und für dich auch teuer wird. Wir haben deinen Mann nach dem Boßelfest auf der Landstraße gegen zwei Uhr dreißig kurz vor, wo genau sagen wir aber nicht, denn die Polizei könnte hier unsere DNA Spuren finden, in unsere Gewalt gebracht. Wir haben die Tat schon lange genau geplant, das können wir dir verraten. Auch können wir rund um die Uhr dein Haus mit einer getarnten Internetkamera beobachten. Wir verraten dir das ganz bewusst, weil wir dir zum einen unseren Stand als Profis im Entführen von Menschen demonstrieren wollen, zum anderen wollen wir zeigen, dass wir keine Angst vor der Polizei haben. Wir sind in Europa, Lateinamerika und in Afrika auf das Entführen von Menschen spezialisiert. Es geht uns nicht um irgendwelche politischen oder religiösen Dinge, auch nicht um Rachegefühle gegenüber deinem Mann, weil er als Richter unsäglich viele Menschen schon in deine Klapsmühle brachte und du dir mit deinen gefälschten Gutachten auch für die Krankenkasse an diesen armen Teufeln eine goldene Nase verdienst. Wir sind eine Firma, die sich auf den professionellen Handel mit Menschen zur Erzielung eines hohen Lösegeldes spezialisiert hat und wir werden von hochkarätigen, international tätigen Kunden beauftragt.
Wir können dir auch noch verraten, dass wir den besten Draht zur Polizei haben, da wir auf unserer Gehaltsliste nicht die normalen Streifenpolizisten stehen haben. Der gehobene Dienst bis zu den Polizeipräsidenten aus einigen auserwählten Polizeiinspektionen arbeitet still und geräuschlos für uns.
Aber der aktuelle Streit des Einfaltspinsels Martin, der in seinem betrunkenen Kopf vor allen Leuten im Saal des Lokals ‚Windschiefe Kate‘ in Rechtsupweg deinem Mann damit drohte, ihm den Schädel mit einer Boßelkugel einzuschlagen, geht nicht auf unsere Kappe. Martin sah aber ohne unser Zutun ganz richtig, dass er die Einsperrung seines Onkels durch deinen Mann lautstark monierte, um es einmal diplomatisch auszudrücken. Dabei nannte er dich ausdrücklich. Woher Martin wusste, dass du mit deinen Machenschaften im Landeskrankenhaus mit in dem Sumpf steckst, wissen wir nicht, hier sind wir genau so ratlos wie du. Wir könnten es leicht herausbekommen, doch das werden wir nicht, weil wir kein überflüssiges Risiko eingehen möchten. Denn wir können uns denken, dass die Polizei den Martin ab jetzt beschatten wird. Liebe Polizisten, lasst es bitte, wir rühren den Martin nicht an, wir beobachten ihn auch nicht mit elektronischen Mitteln. Hier gilt unser Ganovenehrenwort.
So, mehr wollen wir den Profilern von der Polizei nicht verraten. Sie werden sich an uns sowieso die Zähne ausbeißen. Sie brauchen sich nur die Entführungsakten der letzten zehn Jahre in Lateinamerika und jüngst in Uruguay anzusehen. Wir haben es dort mit knallharten Gegnern der amerikanischen Bundespolizei zutun. Dort sind Sachen passiert, die so grausam waren, dass es sogar uns erschüttert hat. Und wir haben schon so manches Gemetzel veranstaltet. Wir mögen gar nicht gerne daran erinnert werden, aber wie sagt der Ostfriese: Wat mutt, dat mutt. Ihr seht, wir sind auch hier in dem schönen Ostfriesland bewandert. So, nun zum Geschäft und darum geht es uns ja für unseren Auftraggeber. Das Lösegeld beträgt jetzt zu Anfang, höre genau hin, Nelli, fünfzehn Millionen Euro für die erste Woche. Das Geld muss von heute an in spätestens drei Tagen in einem leuchtend pinkfarbenen Aktenkoffer parat stehen. Wir treten heute in genau drei Tagen um die Mittagszeit mit dir in Kontakt. Dass die Polizei oder ein spezielles Kommando eingeschaltet wird, wissen wir, es interessiert uns aber nicht. Nur so viel, wir haben Leute bei uns in den Reihen hier in Ostfriesland, die auch eine harte Ausbildung hinter sich haben. Falls das Geld nicht bis dahin vorliegt, geben wir dir eine letzte Chance. Du bekommst von uns ein Paket und wir können dir nur raten, hole zur Öffnung des Paketes einen Arzt. Du wirst ihn dringend brauchen. Dein Mann wird dann noch leben, wir sagen ausdrücklich ‚noch‘. Denn der Preis erhöht sich auf nicht mehr nachverhandelbare fünfzig Millionen Euro und dieser Betrag muss nach Ablauf der ersten Frist innerhalb von vierundzwanzig Stunden gezahlt werden. Der erste Übergabeort ist hinfällig und wir werden dir einen zweiten Ort mit einer geänderten Taktik nennen. Danach werden wir kein Geld mehr fordern, sondern unserem Auftraggeber von dem Misserfolg berichten müssen.
Ach ja, der Martin brachte uns mit der Boßelkugel auf eine gute Idee. Er drohte deinem Mann, wie schon gesagt, vor allen Boßelfreunden und dem Wirtsehepaar damit, ihm mit einer Boßelkugel den Schädel einzuschlagen. Sehr originell für einen ersten Vorsitzenden eines Boßelvereins, meinst du nicht auch? Wir sind fair und wir können gut verstehen, dass man ja gerne erfahren will, wo der Liebste still und stumm für immer als Leiche liegt. Es ist für uns ein Leichtes, seine Leiche auf ewig verschwinden zu lassen und dir für deine Vitrine mit der brennenden Kerze ein schönes Farbfoto, zugegeben, mit einem etwas veränderten Gesichtsausdruck deines Manns, zu schicken. Dann wüsstest du immerhin, er richtet jetzt auf einer höheren Schiene und wir können nur hoffen, er richtet dort weniger korrupt. Aber wir versprechen dir, dass wir dir zwanzig Jahren nach seinem Hinscheiden von dieser schönen Welt den Ort verraten werden, wo er in Frieden in allen Einzelteilen ruht. Der Ort seiner Ruhe wird sehr umfangreich in Ostfriesland sein, glaube uns.
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