Als Jolinde die Gruppe sah, zuckte sie zusammen. In der Gruppe ihrer Mitschüler befand sich jemand, der nicht zu der Klasse gehörte und der sie unverwandt anschaute. Es war das Kind aus dem Hexenkeller. „Was ist mit Dir?“ fragte der Lehrer. „Warum bist Du so blass.“
Jolinde deutete auf das fremde Kind, das sie so unendlich traurig ansah, und vermochte keinen Ton zu sagen. Aber der Lehrer schien nichts zu sehen und übergab sie dem Burgführer mit der Bitte, besonders auf sie zu achten, da sie sehr schreckhaft sei und er noch etwas Wichtiges zu erledigen habe.
Dann war er verschwunden und Jolinde schaute nach hinten, um zu sehen, ob das fremde Kind sie verfolge. Aber auch das Kind war verschwunden.
Die Gruppe ging weiter und kam in den Raum des großen Turmes, in welchem Jolinde den Lehrer überrascht hatte. Der Führer bat um Aufmerksamkeit und erzählte, dass zur Zeit des Dritten Reiches dieser Raum mit den im Kreis stehenden Säulen als Treffpunkt der Totenkopf-Ring-Träger, also der SS-Führer gedient habe. Und dass sie in diesem Raum schwören mussten, töten zu wollen. Die Totenkopfringe seien auch hier – also immer, wenn einer von ihnen verstarb – gesammelt worden und später auf mysteriöse Art verschwunden.
Die Jungs der Klasse fanden das spannend und wollten wissen, ob man die Ringe nicht gemeinsam suchen gehen könne. „Ach was“, lachte der Führer, „die sind doch bestimmt nicht mehr hier. Wer weiß, wer die heute hat, oder wo sie vergraben sind. Aber es gibt viele Menschen, die sie haben möchten und etwas sehr Besonderes mit ihnen verbinden.“
Dann drängte er weiter, denn die Zeit wurde knapp. Und sie wollten ja noch in das Museum der NS-Vergangenheit.
Dort verbrachten sie geraume Zeit, aber Jolinde konnte sich später an nichts mehr erinnern. Sie war wie betäubt von den vielen Grausamkeiten, die sie dort zu hören bekam.
Auf der Heimfahrt saß sie neben Markus. „Markus“, sagte sie, „wie kannst Du nur dort wohnen. Mir macht die Burg Angst.“ „Vielleicht solltest Du einmal ein paar Tage bei mir wohnen, dann würdest Du sehen, wie schön das ist“, sagte Markus mitfühlend. „Nein, nein“, entsetzte sich Jolinde, „das werde ich nie tun.“ „Aber was hast Du denn gegen die Burg?“ „Da gibt es jemanden, den Ihr nicht seht.“
Als Jolinde das sagte, spürte sie die Augen von Herrn Stockmann auf sich ruhen, und schwieg. Aber Markus fragte weiter: „Was heißt denn das: jemanden, den wir nicht sehen?“
Da kam Herr Stockmann dazu und bat Jolinde zu sich nach vorne. Dort sagte er zu ihr: „Jolinde, es ist möglich, dass Du Dinge siehst, die andere nicht sehen. Aber bei kleinen Mädchen ist das manchmal so. Da spielt ihnen ihre Fantasie einen Streich. Das wird sich später wieder legen. Gib nicht zu viel Acht auf solche Erlebnisse. Das Gehirn des Menschen ist sehr kompliziert und wir verstehen nicht immer, was unsere Augen sehen. Aber vor allem sprich nicht mit den anderen darüber, denn sie können es nicht verstehen und lachen Dich nur aus. Versprichst Du mir das?“
Jolinde nickte und der Lehrer sagte abschließend, indem er seine Hand auf ihren Kopf legte: „Und wenn Du wieder so etwas erlebst, dann kommst Du gleich zu mir. Versprichst Du mir auch das?“ Wieder nickte Jolinde und sagte leise „Ja“.
Aber zu Hause erzählte sie das Erlebte ihrer Mutter. Und diese handelte sofort. Sie nahm sie mit sich zu den Grals-Steinen und bestieg mit ihr den Felsen, in dessen oberem Bereich sich die Sonnenkapelle befand.
Die kleine, in den Stein gehauene Kapelle im oberen Teil des mittleren Felsen besaß in einer Nische einen Steinaltar, über dem ein fast 50 cm großes, kreisrundes Loch am Morgen der Sommersonnenwende das Rund der Sonne in sich trug. Und auf diesem Altar musste einmal die Irminsul – ein altes germanisches Heiligtum – gestanden haben.
Die Irminsul war eine senkrechte Säule mit zwei ausladenden Armen links und rechts, die wie Pflanzenblätter geformt, das Rund der Sonne trugen. Das war das Zeichen für die Verbindung des Sonnengottes mit den Lebenskräften der Erde. Und diese Sonnenkräfte sollten die Tochter jetzt schützen.
Frau Schmidt kniete mit ihr vor dem Altar nieder und betete:
„ Ihr Götter, die kein Mensch erschauen kann, beschützt mir meiner Tochter Seele. Dass ihr kein Schaden werde, wenn sich ihr dunkle Mächte nahen.“
Dann verharrten sie lange Zeit in ruhiger Andacht und gaben ihre Sorgen und Ängste an die Götterwelten ab.
Danach erhoben sie sich wieder und stiegen, teils erleichtert, teils gestärkt vom Felsen herab.
Aber am Fuß der Felsen erlebte Jolinde eine böse Überraschung. Dort stand plötzlich der Lehrer Stockmann vor ihr. Er trat gerade aus der Felsenhöhle heraus, die sich im mittleren Bereich des zweiten Felsens befand und in dessen Felsenboden ein Taufbecken eingehauen war.
Er war sehr erstaunt, die beiden hier zu sehen, und Jolinde war beschämt. Sie fühlte sich schuldig, weil sie ihre Mutter eingeweiht hatte.
Sie hatte ihm ja versprochen, das in der Axe-Burg Erlebte niemandem zu sagen. Wusste er jetzt, dass sie es verraten hatte?
Aber Herr Stockmann ging nicht auf die Axe-Burg ein. Auch nicht auf das von Jolinde dort Erlebte. Er fragte die Mutter nur nach ihrem Befinden und sprach über das schöne Wetter und darüber, dass er den Kindern am nächsten Tag in der Schule etwas über die Steine erzählen wolle.
Dann gingen sie ihrer Wege und Jolinde war froh, dass er sie nicht weiter ausgefragt hatte.
Am nächsten Morgen in der Schule und in der zweiten Unterrichtsstunde schaute der Lehrer Jolinde lange an und sagte dann: „Liebe Kinder, nachdem Ihr gestern die Axe-Burg kennengelernt habt, möchte ich Euch heute etwas über die Grals-Steine sagen.
Die Felsen der Grals-Steine ragen bis zu 50 Metern in die Höhe und sind ein Teil der mittleren Gebirgskette des Teutoburger Waldes. Sie bestehen aus einer Reihe von dreizehn fast frei stehenden Sandsteinen und bilden in ihrer Ausrichtung, die von Nordwest nach Südost verläuft, so etwas wie eine Felsenburg. Sie sind ein altes germanisches Heiligtum, das von Karl dem Großen im achten Jahrhundert zerstört wurde. Für viele Menschen sind sie ein Kraftort und haben wohl in vorchristlicher Zeit schon als Ort der Erleuchtung gedient. Viele Menschen behaupten auch, dass sie ein Beobachtungszentrum für Sternenbewegungen waren. Liebe Kinder, was mir aber besonders am Herzen liegt Euch zu erzählen, ist die Tatsache, dass im Jahre 772 Karl der Große dort die Irminsul zerstörte. Weiß von Euch jemand, was die Irminsul ist? Jolinde!?“
Jolinde erhob sich schüchtern und versuchte wiederzugeben, was sie von der Gemeinschaft gelernt hatte. Sie sagte: „Die Irminsul ist eine das All tragende Säule. Sie war ein hoher Stamm mit oben zwei gebogenen Armen links und rechts so, dass das All in ihnen ruhen konnte.“
Dann setzte sie sich wieder.
„Richtig“ sagte der Lehrer. „Und bei den Grals-Steinen in der oberen Kapelle stand sie auf einem Steinaltar und umfasste mit ihren zwei hornartig geschwungenen Blättern links und rechts das Sonnenloch im Felsen, durch das am Morgen der Sommersonnenwende die Sonne schien. In diesem Moment ruhte für den Betrachter die Sonne in- und auf der Irminsul. Das war das Zeichen dafür, dass sich der Geist der Sonne mit dem Leben der Menschen verband. Später diente sie nur noch dem Nikodemus als Stuhl, um den Leib des Christus vom Kreuze zu nehmen. Das sehen wir auf dem Kreuzabnahmerelief, das um 1150 von Zisterziensermönchen in den Felsen der Grals-Steine geschlagen wurde. Aber es ist nicht sicher, dass die Irminsul wirklich zerstört wurde. Vielleicht existiert sie noch und wer sie fände, besäße mit ihr eine große Macht.“
Die Kinder hatten interessiert zugehört, denn Herr Stockmann hatte seine Erzählung mit großer Leidenschaft vorgetragen. Seine Augen leuchteten und die Kinder spürten, dass er längst noch nicht alles gesagt hatte, was ihn bewegte, sondern den Kindern etwas ganz Wichtiges vorenthielt.
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