Strophen auf einmal zu verschlingen, das hatte wohl noch kein vernünftiger Mensch von ihm
verlangt.
Aber auch mit mir ging eine Veränderung vor. Wer mich beobachtete, der mußte unbedingt
bemerken, daß ich ein schlechtes Gewissen hatte. Meine Haltung kam mir unmännlich und
mein Gang schlottrig vor; die Augen verloren ihre bisher nach vorn gerichtete Direktion und
begannen, sich vorzugsweise und verstohlen bald nach rechts und bald nach links zu richten,
ob mir die zweiunddreißig Strophen vielleicht anzusehen seien. Kein Brot, selbst das ganz
trockene, wollte mir mehr schmecken; der Schlaf streikte, und wenn er seine Pflicht einmal
that, so träumte ich von allerlei Ungeheuerlichkeiten, z.B. von einem großen Briefkasten,
welcher in Gestalt einer blauen Riesenkröte auf mein Bett gekrochen kam und mich so lange
drückte, bis ich mit einem Schrei erwachte.
Meine Arbeiten fertigte ich mit derselben Gewissenhaftigkeit wie vorher, aber sie wurden mir
schwerer als früher; meine roten Wangen wurden blaß; ich magerte ab und wurde wortkarg
wie eine Stimmgabel, die auch nur dann erklingt, wenn man ihr einen Stoß versetzt. Es war
eine schwere, eine schlimme Zeit! Und sie dauerte übermäßig lang. Ende Juli hatte ich dem
Briefkasten mein Schicksal vorzeitig anvertraut, denn die »Galgenfrist« ging erst am ersten
Oktober zu Ende, und am ersten November sollte die Entscheidung fallen. Wenn ich doch
meine »Zweiunddreißig« wieder hätte; ich wollte nicht nur auf jeden, selbst den dritten Preis
verzichten, sondern das heilige Versprechen ablegen, nie wieder einen Reim zu schreiben!
Das war viel, sehr viel gesagt, weil Reime mir nicht die geringste Schwierigkeit bereiten und
mir auch der dritte Preis, zehn harte, blanke Thaler, als ein kleiner Schatz erschienen wäre.
Daß mir nichts beschieden sei, also eines negativen Erfolges, war ich vollständig überzeugt,
aber diese Angelegenheit konnte auch eine positive und zwar sehr unangenehme Wirkung für
mich haben. Ich konnte nämlich den Gedanken nicht los werden, daß die »löbliche«
Redaktion mein Gedicht nicht an mich zurücksenden, sondern es mit einigen besondern
Randbemerkungen unserem strengen »Alten« zur Nachachtung zustellen werde. Wer
Gymnasiast entweder war oder noch ist, der weiß, wen ich mit diesem »Alten« meine, und
wird mein heimliches Grauen zwar nicht ermessen und nachfühlen aber doch wenigstens
ahnen können. Seiner gestrengen hatte mir zwar immer wohlgewollt und manche Härten
meiner Lage zu mildern gesucht; er ließ mich sogar seinem Sohne wöchentlich zwei Stunden
Nachhilfsunterricht erteilen, wofür ich Sonnabends in der Küche Reis mit Rindfleisch bekam
und dann als Nachgenuß der Lieblingskatze seiner Frau den Rücken krabbeln durfte; aber
falls die »Löbliche« meine Befürchtung zur Wahrheit werden ließ, so war für nichts mehr,
weder für den Reis noch für die Katze einzustehen!
So also türmten sich die Wetterwolken immer schwärzer und drohender über mir zusammen,
und als der erste November kam, war er, wie ich heut noch weiß, ein zwar kalter aber
sonniger Herbsttag, in meinem Innern aber schneite es schwere, große Flocken, nicht hellen
Schnee, sondern es war ein ganz anderer und viel dunklerer Stoff. Nun konnte ich die Tage,
nein, die Stunden zählen; sie wurden mir zu Ewigkeiten; aber irdische Ewigkeiten gehen
vorüber, diese also auch. Und nun kommt es – – – es ist da; das fürchterliche Verhängnis
nämlich!
Es war am sechsten November, nach der letzten Vormittagsstunde, als ich zum »Alten«
gerufen wurde. Zwei Treppen hinauf, jede zwanzig Stufen, auf jede zwanzig Schläge meines
Herzens, macht in Summa achthundert; weniger sind es wahrscheinlich nicht gewesen. Ich
klopfte an, trat ein und – – sah nichts, weil meine Augen nebelten. Es vergingen einige
Augenblicke; der Nebel teilte sich, und ich sah den Gewaltigen mit Augen, als ob er mich
durchbohren wolle, vor mir stehen.
»May!« erklang es in seinem tiefsten Baß.
Ich verbeugte mich. Was ich für ein Gesicht gemacht habe, das weiß ich nicht, denn nur er hat
es gesehen und mir nichts darüber angedeutet.
»May!!«
Ich verbeugte mich wieder.
»May!!!«
Dritte Verbeugung; aber nun war ich entschlossen, mich nicht mehr zu bücken.
»Sie – – sind – – ja – – ein – – ganz – –«
Ich sah ihn so scharf an, daß er innehielt; beleidigen wollte ich mich auf keinen Fall lassen.
Da lachte er und fuhr in einem ganz andern Tone fort:
»Geht mich eigentlich nichts an, ganz und gar nichts; ist nur Ihre Privatsache, wenn Sie sich
mit Blamagen herumriskieren. Warum auch nicht? Sie sprechen ja stundenlang in
Knüppelversen, und Ihr Deutsch – – hm! Aber Sie hätten es mir doch wenigstens vorher zur
Durchsicht geben können!«
»Das Gedicht?« fragte ich.
»Natürlich! Ich hätte die Fehler angestrichen, die noch drinstecken und von dem Redakteur
gar nicht bemerkt worden sind. So ein Mensch weiß ja gar nicht, was zu einem guten Gedicht
gehört; woher sollte er es auch wissen?! Kuh – Muskate – –!«
»Es ist also zurückgeschickt worden?«
»Ja, im Probedruck, so was man Korrektur oder Revision nennt. Dabei ein Brief, nicht an Sie,
sondern an mich. Sie bekommen ihn natürlich nicht zu lesen – – fällt mir gar nicht ein! Ich
werde antworten, daß zwar Ihr Name, aber sonst weiter gar nichts unter das Gedicht gesetzt
werden darf; Sie verfallen sonst dem Tintenteufel, der der schlimmste von allen Teufeln ist.
Haben mehr zu thun, als Gedichte zu machen! Junges Bürschchen!«
Ich holte tief, tief Atem. Also meine Zweiunddreißig waren angenommen worden! Dritter
Preis zehn Thaler – – –! Mir wollte es wieder vor den Augen nebeln! Da fuhr er fort:
»Was ich sagen wollte: Werde Ihnen die Nachhilfsstunden von jetzt an bar bezahlen, zweimal
fünf, also zehn Groschen. Den Sonnabendstisch behalten Sie trotzdem. Werde Sie wegen
Ihrer Kühnheit und dem Gedichte später noch extra vornehmen; habe jetzt keine Zeit; muß zu
Tische gehen. Hier ist das Geld. Nun gehen Sie!«
Er gab mir ein Couvert in die Hand. Ich bedankte mich mit vor Aufregung heiserer Stimme
und schoß zur Thür hinaus, nachdem ich eine ganz besonders tiefe Verbeugung gemacht
hatte, der ich doch vorhin fest entschlossen gewesen war, keine mehr zu machen.
Wie ich die Treppe hinunter und dann in meine »Bude« gekommen bin, das weiß ich selbst
heut noch nicht. Ich öffnete das Couvert. Was war darin? Ein kurzes Schreiben der Redaktion
– – drei Zehnthalernoten! Die schreckliche, große, blaue Kröte hatte, wie jede Kröte im
Märchen, Geld für mich bedeutet – – nicht den dritten, sondern den ersten Preis.
Was ich that, als ich wieder ruhig geworden war? Die Antwort ist nicht nötig! Ich habe weder
in guten noch in schlimmen Lagen jemals vergessen, daß das Gebet eine heilige Pflicht ist
und Erleichterung bringt.
Und wie es – wenigstens dem Sprichworte nach – mit dem Unglücke ist, so ist's auch mit dem
Glücke; es kommt niemals allein. Als ich am Nachmittag zum Unterricht bei meinem alten
Kantor erschien, zeigte er sich außerordentlich aufgeräumt. Er war zwar stets ein lieber, alter,
munterer Herr, heut aber zeigte er sich besonders heiter und gesprächig und ließ einige
Andeutungen über »gute Arbeit« und »Buchhändlergeld« fallen, so daß ich mir im stillen
sagte, daß er mit dem »Alten« über meinen Glücksfall gesprochen haben müsse. Als ich nach
der Stunde, wie ich gewöhnlich that, denn ich borgte nie, den Thaler auf die gewohnte Stelle
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