Normalerweise wurden die volksdeutschen Familien geschlossen mit Frau, Kindern, Eltern und Schwiegereltern umgesiedelt. Onkel Hans kam alleine in das Umsiedlungsauffang-Lager nach Zdunska Wola. Ich fragte Onkel Hans, wo seine Frau war.
„ Sie ist in Siebenbürgen zurückgeblieben.“
„ Warum?“
„ Sie kam aus dem Banat “, sagte Onkel Hans.
„ Aus dem Banat? Was ist das?“ Onkel Hans winkt ab. Er äußerte sich nicht weiter dazu. Meine Informationen musste ich mir alleine aus Lexika und Internett zusammen sammeln.
Die Banater Deutschen waren ursprünglich Schwaben, also auch Deutsche, aber Deutsch und Deutsch war doch nicht das gleiche. Geschichtlich betrachtet sind die Banater Schwaben zwischen 1686 und 1848 in die Pannonische Tiefebene eingewandert, während die Siebenbürger Sachsen schon seit dem 12. Jahrhundert im Karpatenbogen wohnten und eine hohe Kultur entwickelt hatten.
Die Einwanderung der Schwaben war von der Österreichischen Monarchie organisiert worden. Diese Schwaben hatten niemals dieselbe Autonomie und Selbstverwaltung zugesprochen bekommen wie die Siebenbürger Sachsen. Sie hatten sich verschiedenen staatlichen Machtstrukturen anpassen müssen.
Außerdem waren diese Gebiete im 16. Jahrhundert hauptsächlich von Serben und Walachen bevölkert. Die Banater Schwaben hatten also keine staatsrechtliche Autonomie und teilten zudem den gleichen Lebensraum mit anderen Bevölkerungsgruppen. In dieser Symbiose haben sie nicht ihre Sprache, Kultur, Zivilisation und ethnische Abstammung in der gleichen organisierten Form wie die Siebenbürger Deutschen bewahren können. Sie hatten auch keine Möglichkeit, eine neue Kultur aus dieser Symbiose heraus zu entwickeln.
Onkel Hans wusste das alles, aber er konnte das, was er eigentlich meinte, nicht sprachlich formulieren. Er sagte nur mit einer wegwerfenden Handbewegung: „ Sie kam aus dem Banat.“, und danach hätte ich alles Weitere, was ich nicht wusste, intuitiv wissen müssen.
Möglicherweise gab es für die Siebenbürgern Sachsen ein kollektives Selbstverständnis, mit gewissen Begriffen bestimmte Dinge zu assoziieren. Diese Assoziationen waren mir nicht zugänglich.
Als ich nicht locker ließ und Onkel Hans mit weiteren Fragen plagte, wich er auf eine andere Ebene aus. Ich bekam intime Bekenntnisse von Dingen, die ich gar nicht wissen wollte und die ich nicht verstand. Onkel Hans erzählte mir, dass seine Frau „kalt“ war. Nicht einmal als er an die Front reisen musste, habe sie mit ihm schlafen wollen.
Er wäre ganz verrückt nach Sex gewesen. Bis er zwanzig Jahre alt war, hatte er niemals Sex gehabt, als er aber einmal damit anfing, sei er total explodiert.
„ Das war doch was Scheenes !“, sagte er. Onkel Hans hatte seinen speziellen Siebenbürger Dialekt beibehalten.
Außer diesen intimen Bekenntnissen, bekam ich keine weiteren Erklärungen.
Onkel Hans war offen, großzügig und in gewisser Hinsicht auch naiv, derartige detaillierte Intimitäten zu erzählen. Durch diesen Einfluss von Tante Emilie und Onkel Hans hätte ich vortrefflich aufgeklärt sein müssen. War ich aber nicht. Denn für eine Jungfrau, der jede körperliche Erfahrung fehlt, hat der Lehrsatz des Pythagoras den gleichen Erkenntniswert wie Beschreibungen von erotischen und sexuellen Erlebnissen, beide können ein reflexives Staunen auslösen: „ So etwas gibt es also auch “, aber sonst gar nichts.
Derartige Erzählungen und Erklärungen von Onkel Hans oder von meiner Schwester, beweisen die Unmöglichkeit, theoretisch Dargestelltes und Vermitteltes in eine körperliche Adaption und Erkenntnis zu transformieren, wenn die Voraussetzung einer entsprechenden körperlichen Erfahrung fehlt. Es ist keine Antenne für den Empfang solcher Aussagen vorhanden. Bei mir riefen diese Anspielungen und Erzählungen weder erotische Visionen noch sexuelle Bilder hervor. Sie vermittelten mir keinerlei Erkenntnisse, welcher Art auch immer.
Onkel Hans wurde also alleine umgesiedelt. Er kam nach Zdunska Wola in Polen. Zdunska Wola war eines dieser von der SS errichteten und geleiteten Lager, wo die Auslandsdeutschen aufgesammelt und ausgesiebt wurden. Von hier aus wurden sie umgesiedelt.
Meine Mutter arbeitete in Zdunska Wola als Lehrerin. Sie war damals zwanzig Jahre alt. Onkel Hans, der allen Frauenröcken nachlief, schwärmte noch zwanzig Jahre später: „ Das war ein scheenes Mädchen.“
Meine Mutter wäre jeden Morgen mit den Kindern ihrer Klasse spazieren gegangen. Jeden Morgen hätten die jungen Männer am Lagerzaun gestanden und hinter ihr her gehechelt.
Onkel Hans hätte zuerst als Käsemeister gearbeitet. Später wäre er zum Kriegsdienst an die russische Front geschickt worden. Er sei in die russische Gefangenschaft nach Workuta gekommen.
Das Schicksal der Volksdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg war grausam. Das galt für Ost-Preußen, für Polen, für die Tschechoslowakei, aber auch für die Siebenbürger Sachsen in Rumänien. Alle Deutsche, ob sie in Deutschland gelebt hatten oder nicht, ob sie am Krieg teilgenommen hatten oder nicht, wurden kollektiv schuldig gesprochen, bloß weil sie Deutsch waren, weil sie deutsche Ahnen oder einen deutschen Pass hatten. Das war in Norwegen so. Das war in Polen, in der Tschechoslowakei, in England, Frankreich, in Rumänien und Russland so.
Arbeitsfähige Siebenbürger wurden in ukrainische Kohlenbergwerke deportiert und zu Zwangsarbeit verurteilt. Familien wurden zwangsevakuiert und in unfruchtbaren Gegenden angesiedelt. Bauern, Industrie- und Handelsunternehmen wurden enteignet. Kulturelles Vermögen wurde beschlagnahmt. Siebenbürger Sachsen, die im Ausland waren, hatten keine Einreiseerlaubnis, in ihre Heimat zurückzukommen. Siebenbürger Sachsen, die in Rumänien wohnten, durften nicht ausreisen.
Deutsche wurden evakuiert, deportiert, eingekerkert, ermordet, total enteignet, zu Zwangsarbeit und zur Flucht gezwungen. Ihre Bürgerrechte wurden ihnen entzogen. Deutsche waren Freiwild. Man konnte sie erschießen, ermorden, verschleppen und vergewaltigen. Hundert Millionen von Menschen wurden per Definition für nicht existent erklärt. Sie wurden mit einem Papierstrich in Jalta und Potsdam ermordet. Der Rest war Schlächterarbeit. Nicht einmal der Gerichtshof im Haag wagt, an diese ethnische Reinigung zu rühren. Sie ist zu groß. Sie ist zu umfassend. Sie überschreitet jeden Menschenverstand. Die Deutschen haben eben das gekriegt, was sie verdient hatten. Das ist die offizielle Version.
Recht ist ein artifizieller Begriff, der wie eine Seifenblase in der Luft zerplatz, sobald man die Machtstrukturen untersucht, die dahinter stehen. Der Internationale Gerichtshof im Haag befasst sich mit Serbien, Kroatien, Ruanda, aber die Kriegsgräuel an Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg wagt keiner aufzudecken. Man weckt keine schlafenden Hunde.
Wozu auch? Deutschland gab es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Also gab es keine Deutschen. Also konnte es keine Kriegsverbrechen an Deutschen geben. Logik ist etwas Schönes.
.Als Onkel Hans in den fünfziger Jahren aus der russischen Gefangenschaft entlassen wurde, durfte er nicht nach Siebenbürgen zurückkehren. Darum ging er nach West-Deutschland. Hier irrte er herum. Er hatte keine Unterkunft, er hatte keine Arbeit, er hatte keine Einnahmen, kein Geld, keine Familie und keine Verwandten. Er hatte nichts zu essen.
Auf seiner Suche nach einer Überlebensmöglichkeit, kam er zu Tante Emilie. Ihm war erzählt worden, sie hätte ein Zimmer zu vermieten.
Tante Emilie hatte kein Zimmer zu vermieten. Tante Emilie arbeitete als Krankenschwester im Krankenhaus. Sie versorgte alleine ihre Mutter und einen Sohn. Der andere Sohn war beim Spielen mit Kriegsmaterial, das in Wäldern und Ruinen vergessen herumlag, in die Luft gesprengt worden. Tante Emilie hatte eigene Sorgen und genug Probleme, um ihre Familie durchzubringen. Tante Emilie konnte keine herum irrenden und heimatlosen Menschen bei sich aufnehmen. Fünfzehn Millionen Menschen, vielleicht auch mehr, lagen in Deutschland auf der Straße.
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