Die Kaderabteilung der Parte führte Listen mit den Namen bereits verhafteter Konterrevolutionäre und denjenigen, die noch in ihren Ämtern saßen.
So erteilte das NKWD am 2. Juli 1937 die Weisung, 259.450 Personen zu verhaften und 72.950 davon sofort zu erschießen.
Bis zum Januar 1938 wurden dann zwei weitere Listen erarbeitet. Sie enthielten die Namen von weiteren 79.700 Personen, von denen 64.800 sofort zu exekutieren waren.
Eine neue Schicht von Führungskadern drängte nach vorn und in die Führungspositionen in Staat und Partei. Oft baten die Funktionäre der unteren und mittleren Ebenen darum, die Quoten der zu Verhaftenden und Hinzurichtenden noch beträchtlich zu erhöhen. Dies ging so weit, dass das Politbüro am 18. November 1938 vor Übertreibungen bei der Umsetzung der Tschistka warnte.
Seit Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 lebte Stalin mit Blick auf Deutschland und Italien in der ständigen Angst vor der fünften Kolonne des Faschismus, die das Land infiltrieren und den Sozialismus untergraben könne.
Auf dem März-Plenum von 1937 erklärte Stalin, man brauche zehntausende Hände, um einen gewaltigen Dnjepr-Staudamm zu errichten, aber weniger als ein dutzend Hände, um ihn zu sprengen.
Stalin erinnerte sich in dieser Situation all der persönlichen Beleidigungen, der Kränkungen und der kleinen Unaufmerksamkeiten ihm gegenüber, die er als unverzeihliche Demütigungen von gewaltigem Ausmaß empfand. Stalin hatte nichts von alledem vergessen, nicht die kleinste Geste, nicht eine vergessene Begrüßung, nicht ein einziges unbedachtes Wort! Sein elefantenartiges Gedächtnis hatte alles erfasst und gespeichert, auch dann, wenn es Jahrzehnte zurück lag und die Betroffenen sich längst in Sicherheit wähnten.
Eine solche alte Rechnung hatte Stalin auch seit dem Jahre 1920 mit dem berühmten Marschall Tuchatschewski offen. Es ging dabei um die personelle Verantwortlichkeit für die Niederlage der Roten Armee vor den Toren von Warschau im polnisch-sowjetischen Krieg.
Tuchatschewski hatte später behauptet, Stalin, Budjonny und Jegorow hätten der Offensive auf Warschau bereits im Vorfeld jede Chance genommen, indem sie mit der südlichen Front, um sich persönlichen Ruhm zu sichern, in Richtung Lemberg und nicht in Richtung Warschau angriffen. Wäre die Schlacht um Warschau gewonnen worden, hätte Polen womöglich schon seit 1920 vollständig zur UdSSR gehören können. Auch Lenin soll diese Meinung vertreten haben.
Dieser Tuchatschewski stand als Held des Bürgerkrieges und erfahrener Militär nun an der Spitze der Roten Armee, einem Instrument, das sich in Stalins Augen als geeignet erwies, um jederzeit einen Staatsstreich im Lande herbeiführen zu können. Dieser Hydra musste der Kopf abgeschlagen werden!
Tuchatschewski war inzwischen längst populär. 1932 weilte Tuchatschewski in Deutschland, um Manövern der Reichswehr beizuwohnen. Dabei wurde er vom Reichspräsidenten Hindenburg persönlich begrüßt und besichtigte auch diverse deutsche Rüstungsfirmen im Ruhrgebiet.
1936 weilte er anlässlich des Begräbnisses des britischen Königs George V. als der offizielle Vertreter der UdSSR in London.
Immer wieder verlieh Tuchatschewski in aller Öffentlichkeit seiner Bewunderung für das preußische Militär Ausdruck. Er hatte sich in Berlin mit dem Oberbefehlshaber des deutschen Heeres getroffen. Bei einem Treffen mit General de Gaulle in Paris erwies sich Tuchatschewski als hervorragender Kenner französischer Weine. Dem rumänischen Außenminister hatte er geraten, sich nicht an Frankreich und Großbritannien zu binden, sondern stattdessen an das neue Deutschland. In Berlin sah man Tuchatschewski daher als den kommenden starken Mann in der Sowjetunion, ja vielleicht sogar als den Wegbereiter einer sowjetischen Militärdiktatur, der demzufolge hofiert werden müsse. All das war Stalin nicht verborgen geblieben.
Der NKWD erhielt Weisung, die Deutschen zu veranlassen, Belastungsmaterial gegen Tuchatschewski zu produzieren.
SS-Obergruppenführer Heydrich spielte als Chef des SD dem tschechoslowakischen Ministerpräsidenten gefälschtes Material zu, aus dem hervor ging, dass Tuchatschewski ein Agent des SD sei. Es gab also viele Gründe, die Stalin veranlassen könnten, zu glauben, Tuchatschewski würde Schädlingsarbeit leisten.
Nachdem er ihn zunächst in seiner üblichen freundlichen und verbindlichen Art und Weise darüber informiert hatte, dass er versetzt werde, ließ Stalin Tuchatschewski am 24. Mai 1937 aus dem Salonwagen eines Sonderzuges holen und verhaften.
Tuchatschewski wurde der Führung einer trotzkistischen Organisation in der Roten Armee und der Spionage für das Deutsche Reich bezichtigt. Auf unmittelbaren Befehl Stalins und in Anwesenheit Jeschows wurde Tuchatschewski gefoltert. Sein unterzeichnetes Geständnis ist mit Spritzern seines eigenen Blutes übersät. Angesichts des Schmerzes in den Folterkellern des NKWD gab es keine Helden und kein Heldentum. Es gab nur jammerndes Elend, das sich in seinem Schmerz wand, wie einst Hiob, dass alles unterschrieb und anerkannte, was man ihm vorlegte und dass zuletzt noch die Hand küsste und segnete, die es schlug und folterte.
Die Verhaftung und Aburteilung Tuchatschewskis nahm Stalin derart in Anspruch, dass er nicht an der Beerdigung seiner Mutter Ketewan Geladse teilnahm, sondern lediglich einen Kranz schickte und sich von Beria vertreten ließ.
Tuchatschewski wurde am 12. Juni 1937 im Innenhof der Ljubljanka durch Genickschuss exekutiert. Während der Hinrichtung ließ man die Motoren von Lastkraftwagen laufen, um die Schüsse zu übertönen. Tuchatschewskis Brüder und seine Schwester Sophia wurden ebenfalls exekutiert. Der Rest seiner Familie wurde zu Lagerhaft verurteilt. Sechs der acht Richter, die Tuchatschewski zum Tode verurteilt hatten, ließ Stalin bis zum Jahre 1940 ebenfalls hinrichten.
Es war bekannt, dass Tuchatschewski ein ausschweifendes Sexualleben führte, während Stalin seit dem Tod Nadeshda Allilujewas in dieser Beziehung abstinent lebte. Molotow bezeichnete dies später als den wahren Grund für Tuchatschewskis Liquidierung.
In der ersten Phase der Tschistka wendete sich Stalin gegen die Partei- und Staatsführung der UdSSR. Während großer Schauprozesse, von denen vor allem die vier Moskauer Schauprozesse bekannt geworden sind, wurden viele Prominente abgeurteilt.
Drei der Moskauer Prozesse fanden unter den Augen der Öffentlichkeit statt, lediglich eine Verhandlung trug des Status eines nicht öffentlichen Militärgerichtstribunals.
Nach den Moskauer Prozessen war von jenen sechs Politikern, die in Lenins Testament Erwähnung fanden, nur noch Stalin selbst am Leben. Jedwede tatsächliche oder vermeintliche Opposition in der Führungsspitze von Staat und Partei wurde durch die Gerichtsurteile endgültig ausgeschaltet.
Obwohl es nie öffentlich zugegeben wurde, war dennoch erkennbar, dass Stalin selbst bei allen Prozessen im Hintergrund Regie führte und die Fäden zog.
1936 hatte Andrei Wischinsky schließlich Nikolai Krylenko als Generalstaatsanwalt und Chefankläger abgelöst.
Für Wischinsky, der rhetorisch brillant war und verbal auf die Angeklagten einschlug, reichten Geständnisse absolut aus, um die Schuld von Angeklagten hinreichend zu beweisen.
Dass viele dieser Geständnisse unter der Folter zustande gekommen waren, spielte dabei keine Rolle. Seine Plädoyers waren jedoch nicht nur durch rhetorisches Können, sondern auch durch Grobheiten und Beleidigungen gegenüber den Angeklagten charakterisiert. Sein Auftreten bei den Moskauer Prozessen machte ihn derart legendär, dass das Deutsche Reich Roland Freisler als Zuhörer in Gerichtsverfahren entsandte, in denen Wischinsky als Ankläger auftrat.
Kernstück jeder Anklageschrift war der von Wischinsky jeweils pauschal erhobene Vorwurf, die angeklagten Bürger hätten eine Verschwörung mit Trotzki oder anderen Agenten des kapitalistischen Auslands gebildet, um die Sowjetunion dadurch zu unterminieren. Dies rechtfertigte stets eine Anklage und Verurteilung nach dem § 58 des sowjetischen Strafgesetzbuches.
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