Unsere Empfindung, dass der frei gewählte Tod auf einer tragischen Fehlinterpretation beruht, kann somit nahezu unmöglich das Drama erfassen, welches unserem geliebten Menschen alle Zuversicht und jedweden Lebenswillen geraubt hat. Alle unsere Wertungen sind somit nahezu blanke Theorie, basierend auf der Tatsache, selbst „gesund“ und „psychisch stabil“ zu sein. Begegnen wir einem an Demenz Erkrankten, dann versuchen wir die Auswirkungen dieser Krankheit zu berücksichtigen. Was Demenz wirklich bedeutet, wissen wir nicht, können uns auch gar nicht vorstellen, was im Kopf des Kranken vor sich geht. Wir wissen nur: dieser Mensch ist nicht mehr mit Normalmaßstäben zu messen – und wir berücksichtigen diese Erkenntnis, soweit es im Zusammenspiel mit dem Betroffenen eben geht. Die Basis aller Wertungen dabei: Wir haben es mit einem kranken Menschen zu tun. Und dieser kann für sein Leid nichts, er ist selbst ein „Opfer“.
In ebensolcher Weise müssen wir uns bei einem Suizid positionieren. Unser geliebter Mensch, den wir nun so tragisch verloren haben, befand sich in einem Zustand, den wir weder verstehen, noch nachempfinden können. Aus diesem entsprang der unbedingte Wille zum Sterben. In der Psyche des Suizidenten hat ein Prozess stattgefunden, der nur in seiner eigenen und ganz isolierten Empfindungswelt den eigenen Tod als Erlösung verstehen ließ. Und es entstand der Wunsch zur Selbstvernichtung, zur Auslöschung, zur Beendigung des eigenen Martyriums.
Wir argumentieren im Nachgang mit vermeintlich bestechender Logik: Die Kraft, die unser geliebter Mensch für seinen Suizid aufgewendet hat, hätte mehr als ausgereicht, das Leben fortzusetzen, die Probleme zu lösen, einen positiven Weg zu gehen. Damit werden wir nicht falsch liegen – zumindest theoretisch. Doch an einer Wegegabelung haben wir uns alle zu entscheiden, ob wir nach links oder rechts gehen. Unser geliebter Mensch hat sich nicht nur für eine dieser Richtungen entschieden, er hat alle Kraft und Energie aufgewendet, die für ihn einzig richtige Entscheidung zu treffen. Eine gewaltige Willensleistung, an deren Ende die vollkommene Selbstvernichtung stand.
Kommunikationsdefizite in präsuizidalen Phasen
Um etwas zu sagen, ist immer Zeit vorhanden,
aber nicht um zu schweigen.
Vilma Espin (1959 – 2007),
kubanische Revolutionärin
Wie oft haben Sie sich in Ihrer Tragödie schon gefragt, warum Sie nicht mehr über „alles“ gesprochen haben, warum Sie vielleicht nicht aufmerksam genug zugehört haben, warum Ihr geliebter Mensch so verschlossen und so still war. Sie haben doch sonst immer über alles miteinander sprechen können. Ihre Vertrauensbasis war doch intakt. Die Liebe war das Bindemittel. Geheimnisse gab es doch zwischen Ihnen nie wirklich.
Und hat sich bei Ihnen nicht auch der Gedanke nach und nach eingeschlichen, dass Sie wahrscheinlich nur zu ignorant, zu oberflächlich, zu sehr mit sich selbst beschäftig waren? Dass Sie – wenn Sie denn nur ein wenig aufmerksamer und einfühlsamer gewesen wären – es natürlich gemerkt hätten, was in Ihrem geliebten Menschen innerlich vorging? Und in dem furchtbaren Wissen um dessen Suizid mischt sich nun die Tragik in Ihren Schmerz, dass Sie es doch hätten verhindern können, sofern Sie nicht so egoistisch, Sie nur ein wenig mehr fürsorglicher, kommunikativer gewesen wären.
Ob dieses nun ein Reflex ist, oder tatsächlich in einzelnen Situationen sogar zutreffend war, es ist ein innerlicher Ablauf bei Ihnen, der damit zu vergleichen ist, was ein Vater oder eine Mutter fühlen, die einen kurzen Moment weggeschaut haben, und in dieser Sekunde ist der Vierjährige gegen die offene Türe gerannt und hat sich eine Platzwunde zugezogen, die zeitlebens eine deutliche Narbe hinterlassen wird.
Wie konnte ich nur wegsehen?
Ich hatte doch die Verantwortung!
Warum habe ich die Türe auch offen gelassen?
Wie konnte ich so leichtfertig sein?
Nur weil das Handy klingelte!
Weil ich in diesem Moment so egoistisch war!
Es war doch nur ein kurzer Augenblick der Unaufmerksamkeit!
Das ist ein Beispiel, na klar. Doch ähnelt es nicht in seinem Charakter Ihrer heutigen Situation? Das tragische Unglück ist geschehen, Sie wissen nun (plötzlich), was in Ihrem geliebten Menschen vor sich ging. Und Sie haben – so ist Ihre Empfindung – nicht ausreichend hingeschaut! Nicht genug gefragt! Signale übersehen! Nicht aufmerksam hingehört! Waren vielleicht gerade zu sehr mit sich selbst beschäftigt! Und so weiter, und so weiter …
Falls Sie es vorhaben, diese Selbstmarterung fortzusetzen, dann werden Sie sich einen massiven Schuldkomplex einhandeln – und das ganz sicher zu Unrecht (siehe hierzu „Schuld“). Das wäre noch nicht einmal berechtigt, wenn Sie vorsätzlich gehandelt haben würden, oder zumindest grob fahrlässig. Denn für den Suizid ist nur Ihr geliebter Mensch selbst verantwortlich. Doch weder Vorsatz noch grobe Fahrlässigkeit werden bei Ihnen in Ansatz zu bringen sein. Auch da bin ich mir sicher. Wie „schlecht“ Sie auch immer gegenwärtig über sich denken und urteilen möchten, Sie werden wohl kaum beabsichtigt oder bewusst in Kauf genommen haben, dass Ihrem geliebten Menschen etwas Derartiges passiert.
Sie gleichen derzeit aber die Erkenntnis um das tragische Ende mit den (theoretischen) Möglichkeiten ab, die (allein) Sie sich nun im Nachgang als rettende Maßnahme vorstellen. Wie in so vielen harmlosen Beispielen gesagt wird: Hätte, hätte, Fahrradkette. Denn Fakt wird es sein, dass in Ihnen kein (ausreichender) Verdacht aufkam, Ihnen nichts (oder zu wenig) merkwürdig oder gefährlich erschien, Sie keine (oder zu wenige) Anlasspunkte besaßen, eine solche Tragödie anzunehmen, vorherzusehen und die entsprechenden Maßnahmen einzuleiten. Die Lage war aus Ihrer subjektiven Wahrnehmung höchstwahrscheinlich einfach eine völlig andere!
Im Nachgang sind wir immer schlauer. Das ist nicht schwer, das müssen auch Sie zugeben, und das sollten sich auch alle Menschen in Ihrem Umfeld immer wieder selbst vorsprechen. Und selbst wenn wir an der einen oder anderen Stelle, in einer vielleicht problematischen Situation, etwas verspürt, geahnt oder einfach nur anders reagiert hätten, wäre es dann garantiert gewesen, dass der Suizid unseres geliebten Menschen damit ein für alle Mal vom Tisch gewesen wäre? Das ist nicht nur höchst unwahrscheinlich, zudem auch eine rein theoretische Annahme, die sich in keiner Weise belegen lässt.
Wir leben nun einmal in Momenten, in Zeitfenstern und Fügungen. Sich im Nachhinein vorzuwerfen, es hätte von Ihnen mit mehr Vernunft oder Fürsorge verhindert werden können, träfen allenfalls zu, wenn Sie einen Unfall mit 2,5 Promille Alkohol im Blut verursacht hätten. Dann dürften Sie sich Schuld zuweisen und den Rest mit Ihrem Gewissen ausmachen.
Verzeihen Sie mir bitte diese profane Metapher. Aber sie dient der Objektivierung. Sie haben gehandelt – ob im Detail (objektiv/subjektiv) fehlerhaft ist nur eine Nuance. Welche Chancen waren Ihnen denn gegeben? Ihr Handeln fand auf einem längst bestellten Acker statt, denn das Unglück hängt meist in seiner kausalen Kette von vielen Faktoren ab, die Sie persönlich gar nicht komplett verantworten und nur zu einem geringen Teil selbst beeinflussen können.
Im Fokus dieser Betrachtungen steht die Kommunikation. Und mit dieser die Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit der Gespräche zwischen Ihnen (und Ihrem Umfeld) und dem nun verlorenen geliebten Menschen. War es so, dass Sie etwas von dem gesagt (oder gemeint) haben, was ich jetzt exemplarisch aufführe?
Mich interessieren Deine Probleme nicht!
Lass mich in Ruhe mit Deinen Sorgen!
Ich habe kein Interesse Dir zuzuhören!
Ich will von alledem nichts wissen!
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