Sie war innerlich aufgewühlt. Sie griff nach einer Zigarettenschachtel, die auf dem Tisch lag.
»Ruhig, Sammy, ganz ruhig«, ging Dereks Mutter dazwischen.
»Es gibt unglückliche Zufälle im Leben.«
»Was hat euch Derek nach seiner Rückkehr erzählt,« fragte Michael ungeduldig.
»Nun, dass ihr ein gesunkenes Schiff gefunden habt, mit jeder Menge Toten darin«, sagte Samantha. »Und dass du hineingetaucht bist mit deiner Kamera«, fügte sie hinzu.
»Weiter. Sonst nichts?«
»Und dass Steven ihn mit der Recherche beauftragt hatte. Du warst ja noch drüben in Amerika.«
»Hat er euch erzählt, wie weit er gekommen ist?«, setzte er energisch nach.
»Natürlich. Er war fast fertig und hatte Steven ganz schön heiß gemacht.« »Davon weiß ich gar nichts«, zischte er wütend.
»Das stimmt«, schaltete sich Penny wieder ein. »Er sagte uns, dass er dafür eigentlich einen Orden verdient hätte. Ja, das hatte er gesagt.«
»Er wollte es uns nach seiner Ankunft am Freitag erzählen und nun ist er...«, begann seine Frau zu schluchzen.
Michael indessen verspürte mächtigen Groll. Was sollte das? Warum hatte Steven nichts davon erwähnt? Am liebsten hätte er sofort zu seinem Mobilfunktelefon gegriffen. Shaun Coleman war vom Ausschank zurückgekehrt und verteilte die Biere am Tisch.
»Auf Derek, unseren geliebten Sohn«, sagte er pathetisch, während er sein Bierglas in die Runde hielt. »Und auf das es ihm dort, wo er jetzt ist besser geht.«
»Auf Derek«, erwiderte Michael und leerte das Glas mit einem Zug.
Eigentlich hätte er nichts trinken dürfen, weil er gegen Abend wieder zurück in London sein wollte. Aber es war ihm augenblicklich egal. In ihm brodelte es. »Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll«, fing er an. »Aber ich hatte von Anfang an so eine seltsame Ahnung. Ich kann natürlich nichts beweisen, es ist rein intuitiv. Aber es fällt auch mir noch immer schwer zu glauben, dass es nur ein Unfall war. Genau wie Samantha. In London hält man mich schon für paranoid«, gestand er.
»Wahrscheinlich sind wir das auch«, räumte Samantha ein.
»Vielleicht wollen wir nur nicht wahrhaben, dass es so war«, sagte sie weiter und zerdrückte ungestüm ihre Zigarette im Aschenbecher. Shaun und Penny Coleman starrten überfordert zu ihnen hinüber.
»Genug damit! Hören wir auf!«, sagte Michael abrupt. Er merkte, dass der Zeitpunkt unpassend war, um das Thema weiter zu erörtern. Seine Familie hatte schon genug durchgemacht. So redeten sie nur noch über Belangloses. Dinge die nicht wehtaten und keine tieferen Gefühle weckten. Nach zwei Stunden war es soweit. Michael hatte sein drittes Pint getrunken und musste sich wieder auf den Weg machen. Noch einmal umarmten sie sich und versicherten sich gegenseitig, in Verbindung zu bleiben. Bevor er jedoch den Ort verließ, wollte er es sich nicht nehmen lassen, zur Promenade zu fahren, um noch einmal aufs Meer zu blicken. Er wusste nicht, ob er überhaupt jemals hierher zurückkehren würde. Außerdem würden ein paar Schritte zu Fuß dabei helfen, den Alkohol abzubauen. Wenn die Polizei ihn in diesem Zustand erwischen würde, hätte er ein weiteres Problem, nämlich den Verlust seiner Fahrerlaubnis. Es war spätnachmittags. Die Sonne wurde schwächer und hüllte die pastellfarbenen Hotels am Strand in ein rötliches Licht. Er atmete noch einmal tief und wollte sich dann auf den Weg machen. Als er sich umdrehte, erschrak er. Wie aus dem Nichts stand Shaun Coleman auf einmal vor ihm und sah ihm eindringlich in die Augen. »Michael, wenn an der Sache wirklich etwas faul ist...«, beschwor er ihn mit zittriger Stimme.
»Mr. Coleman, ich weiß, was ich Derek schuldig bin. Ihr werdet die ersten sein, die es erfahren, wenn ich etwas herausfinden sollte«, versicherte er Dereks Vater.
Der lächelte traurig und reichte Michael zum Abschied die Hand. Was mag jetzt in dem armen Mann vorgehen, fragte er sich, während er vom Wagen aus zusah, wie Coleman schweren Schritts nach Hause wankte.
In London brannten längst die Lichter. Es war nach acht Uhr, als er eintraf und er war wieder nüchtern, dafür aber gereizt und wütend. Er hatte keine Ahnung, warum sich Steven so eigenartig benahm. Die Sache mit dem Schiff hatte anscheinend höchste Priorität und Derek war auf etwas gestoßen. Warum aber wusste er bislang nichts davon? Stattdessen die ständige Frage nach der Diskette. Ausnahmsweise fand er sofort einen Parkplatz. Wenigstens etwas, dachte er. Wie immer stöhnte die Treppe unter seinen Füßen, bei jedem Schritt. Dann geschah das Unerwartete. Er hatte noch nicht den Schlüssel parat, da sah er, wie die Tür zu seiner Wohnung offen stand. Nicht weit genug offen, als dass es seinen Nachbarn hätte auffallen müssen. Manchmal ließ Michael sie, um für Durchzug zu sorgen, bei geöffnetem Fenster für eine Weile aufstehen. Daran hatten sich seine Mitbewohner im Haus längst gewöhnt. Schließlich machten sie es genauso. Er war sich aber vollkommen sicher, dass er sie verschlossen hatte, als er am Morgen losfuhr. Trotz intensiver Suche nach der Diskette. Er hatte Angst. Angst, dass noch jemand in der Wohnung sein könnte. Er zog es vor, noch nicht hinein zu gehen. Stattdessen klingelte er zunächst bei seinem seiner Nachbarn.
»Hallo, hier ist Michael Burk, der Mieter von nebenan. Bitte machen Sie auf!«
»Hallo, Mr. Burk, wann sind wir uns denn zum letzten Mal begegnet?«, sagte Mr. Miller, ein ehemaliger Küchenchef und jetzt Pensionär.
»Oh, das ist sicher lange her. Sir, ich habe im Augenblick ein Problem. Jemand muss in meine Wohnung eingebrochen sein. Die Tür steht offen und ich weiß nicht, ob noch jemand drin ist, verstehen Sie? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir ein Messer leihen könnten, ein großes, spitzes Küchenmesser am besten«, sagte er erregt.
Ein paar Minuten später dann stieß er die Tür ganz auf, das Messer im Anschlag und knipste das Licht an. Es war ein Bild des Grauens. Es stockte ihm fast der Atem. Wer immer hier gewesen war, er hatte ganze Arbeit geleistet. Der Teppich im Flur war mit Scherben übersät. Seine Bilder an der Wand waren zerschlagen, ebenso seine japanischen Stehlampen im Flur, auf die er so stolz war. Der Küchenboden war mit Trümmern seines Inventars bedeckt. Der Inhalt seiner Schränke, Teller, Tassen und Untertassen lagen größtenteils zerbrochen oder leicht beschädigt herum. Darunter die ausgekippten Schubladen und das Besteck. Beim Gehen machten seine Schuhsohlen plötzlich ein eigenartiges Geräusch. Schnell bemerkte er, dass er in einer feuchten, klebrigen Masse steckte. Die Einbrecher hatten sich auch den Kühlschrank vorgenommen und die wenigen Produkte, die darin enthalten waren, auf den Boden geworfen. Die Milchtüte war natürlich geplatzt, die Flaschen mit Fruchtsäften zetrümmert. Nur das Obst und das Gemüse waren noch intakt. Die Eier hatte er zum Glück am Vorabend gekocht und gegessen, zusammen mit ein paar Sandwiches. Als Grundlage für den Tequila. »Ach, du lieber Himmel«, stöhnte der alte Miller, der ihm inzwischen gefolgt war. »Soll ich für Sie die Polizei rufen?«
»Nein«, antwortete Michael. »Ich will nur allein sein. Bitte nehmen Sie’s nicht persönlich.« Im Wohnzimmer sah es nicht besser aus. Seine großen Schwarz-Weiß-Fotografien lagen am Boden, die Rahmen sowie das Kunststoffglas davor waren zerstört. Den schlimmsten Anblick aber boten seine Ledercouch und die Sitzecke. Man hätte nur die Reißverschlüsse öffnen brauchen, um nachzusehen, ob sich etwas darin befindet. Stattdessen hatte man sie von allen Seiten aufgeschlitzt. Das können keine Menschen gewesen sein, dachte er. Nicht einmal Tiere tun so etwas. Sogar sein nagelneuer Flachbildschirm war nicht verschont worden. Mit einem Stemmeisen müssen sie ihn aufgebrochen und entzweit haben. Sollte so etwa die Suche nach Geld oder ein paar Wertgegenständen ausgesehen haben? Gehen Einbrecher immer so vor, wenn sie es auf klägliche Ersparnisse abgesehen haben? Hier gab es nichts zu holen. Den teuren Fernseher und die Stereoanlage zu rauben statt sie kaputtzumachen, hätte wesentlich mehr gebracht. Michael hatte kein Bargeld in der Wohnung. Und draußen zahlte er mit ECoder Kreditkarte. Für die paar Pfund die er bei sich trug, hätten ihm Diebe nicht einmal den Arm umgedreht. Er war vollkommen verzweifelt. Was zum Teufel sollte das? Wen hatte er in den letzten Wochen oder Monaten gekränkt oder beleidigt? Wer könnte ein Interesse daran haben, es ihm dermaßen heimzuzahlen? Jemand aus dem Büro vielleicht? Jemand, der sich von Steven wegen seiner Freundschaft zu ihm und Derek ständig übergangen fühlte? Oder dieser dämliche arabischstämmige Türsteher vor dem Club? Der es drauf abgesehen hatte Sally anzumachen und dafür von ihm im Beisein anderer Gäste mit Worten gerügt und vorgeführt wurde? ‚Das alles liegt doch schon sechs Wochen zurück,’ dachte er. Michael wusste sich keinen Rat. Er ließ sich in der Mitte seines verwüsteten Wohnzimmers auf dem Parkett nieder und überlegte, was er als nächstes tun sollte. Ein paar Augenblicke verstrichen, bis er eine inzwischen vertraute Stimme von der Straße her vernehmen konnte.
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