Unbeherrscht und wütend schleuderte Michael den Kater von sich. Er verließ das Haus in der Dämmerung.
Heute fand Jo zu ihrer Bestform, sie spielte mit den Männern wie auf einem Xylophon, schon der leiseste Anschlag brachte Schwingungen hervor, die sie geschickt nutzte, so dass die Kasse stimmte, und sie war charmant zu den wenigen Frauen.
Manchmal stützte sich Jo auf die blankpolierte Theke und zeigte großzügig ihren üppigen Busenansatz. Den Ausschnitt hatte sie heute etwas verkleinert, weil er sonst neugierigen Augen zu viel verraten hätte. Es waren ihr von der Nacht einige blaue Flecken geblieben, die sich langsam vergrößerten und bei manchen Bewegungen erinnerte Jo ein leichter Schmerz an ihre Erlebnisse. Die Männer mochten ihre dunkle samtweiche Stimme und auf die Frage, darf’s noch was sein, sagten sie heute noch öfter ja.
Doch zwischendurch tauchte hinter ihrem routinierten Lächeln die Angst auf, etwas zu verlieren, was sie zu gerne besessen hätte, etwas, was sie nicht einmal so richtig fassen konnte. Wer würde das glauben, wenn man sie so sah, bei ihrer Arbeit, hier im Laden. Jo wusste, sie war gut in ihrem Job. Und damit meinte sie nicht das Abkassieren. Von diesem Platz aus, hinter der Theke, konnte sie so manchem helfen, seine Sorgen zu vergessen. Jo hatte etwas Mütterliches an sich, obwohl sie eher jugendlich, attraktiv - und auf Männer sexy und sehr erotisch wirkte. Natürlich spielte sie hinter der Bar in erster Linie eine Rolle, gab sich aufreizend, manchmal lasziv. Sie wusste ziemlich genau, wie Männer reagieren, aber das Mütterliche an ihr war echt und sie konnte wirklich zuhören. Man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Obschon an der Bar eher selten kluge Gespräche geführt wurden, war es umso überraschender für ihre Gäste, wenn Jo wendig und intelligent mithielt.
Weil ihre Gedanken heute ständig abschweiften, ließ sie wohl etwas mehr ihren attraktiven Körper sprechen.
Jo hätte zu gerne zu Hause angerufen. Sie hoffte, dass er noch da war, dass er warten würde. Je länger sie von ihm getrennt war, desto mehr zog sie dieser Mann an.
Jo und Michael hatten sich nicht festgelegt, alles blieb offen. Beide hatten bittere Erfahrungen hinter sich, und ihre Scheu war groß. Keiner wollte den anderen festhalten oder etwa verpflichten, etwas zu tun, was von ihm nicht restlos freiwillig käme.
Wenn sie wenigstens anrufen könnte. Es rächte sich jetzt, dass sie für ihre Wohnung nie ein Telefon angeschafft hatte.
Michaels überreizte Nerven beruhigten sich langsam nach den ersten Bierchen. Er war durch ein paar Kneipen gezogen und konnte sich zu nichts Endgültigem entscheiden. Auch die Müdigkeit meldete sich mehr und mehr.
Seine Sachen waren immer noch im Schließfach am Bahnhof Zoo.
Wenigstens die Wäsche sollte er mal wechseln.
Der Rückflug wäre noch möglich, er müsste nur umbuchen.
Aber weshalb, wozu?
„Was soll’s, wenn keiner wartet!“, Michaels aufkommende Aggressivität richtete sich gegen ihn selbst.
„Keine Aufgabe, keinen Sinn ... - Scheiße!“ Er würde wieder untätig warten - untätig warten müssen!
„Was soll’s, ob ich hier bin oder dort, erreichbar oder nicht ... Scheiße, man ist so abhängig! - Abhängig davon, ob man dir die Möglichkeit gibt zu arbeiten. - Ein Kapitän ohne Schiff oder ein Trainer ohne Mannschaft, - ein Choreograph ohne Tänzer, ohne Ballett, ist wie ein Maler ohne Farben. - Wie demütigend, nicht arbeiten zu können, nicht arbeiten zu dürfen!“
Mit einer plötzlichen Bewegung erschreckte der vor sich hin maulende Mann einzelne Spaziergänger. Zwei, drei große Schritte, fast schon Sprünge, und er trat gegen eine leere Bierdose, die laut scheppernd über den Gehsteig schlitterte.
„Zu nichts mehr nütze, außer zum Bumsen und zum Saufen!“
Michael war bei den ersten etwas feineren Geschäften angelangt. Pikiert wandten sich einige Damen ab.
Sich irgendwo verkriechen und schreiben. - Warum nicht, wenn er eh nicht vergessen konnte ...
Alles aufschreiben, vielleicht könnte er einiges künstlerisch verarbeiten.
Dazu bräuchte er keine Gruppe von Menschen, kein Ballett. Irgendwo untertauchen und schreiben. - Untertauchen, abtauchen - selbstgewählte Einsamkeit.
„Wenn mich und meine Arbeit keiner will ...“
Aber, würde er schreiben können? Ein Stück oder einen Roman, mit eigenen Erlebnissen? Und wenn - würden es die Leute lesen wollen?
Voller Verzweiflung quälte sich Michael. Er konnte sich nicht entscheiden zwischen Vergessen und bewusstem Verarbeiten. Doch eines wurde ihm langsam klarer, er wollte nicht zurück.
Jo schlich sich fast unmerklich in seine Gedanken. Diese Jo war eine Frau, wie er noch keine vorher gekannt hatte. Ihre körperliche Präsenz, ihre Anziehungskraft weckte sämtliche Lebensgeister wieder auf.
Seine persönlichen Enttäuschungen und der AIDS-Schock, durch den Tod seines ehemaligen Direktors und zweier Tänzer hervorgerufen, vielleicht auch die beruflichen Rückschläge der letzten Jahre, hatten bei ihm zu einem totalen Rückzug geführt. Eine Art innerer Emigration ließ ihn obendrein auf sexuelle Kontakte gänzlich verzichten.
‚Und jetzt diese Explosion - und was für eine Explosion! ... Oh Mann, oh Mann!‘ - Er war wohl wahnsinnig geworden! Ausgerechnet mit einer Bardame auf diese leidenschaftliche Weise zu schlafen, ohne jegliche Vorsicht.
Angst vor der Ansteckung?
Michael hatte Angst. Er konnte nicht vergessen. Auch die Toten konnte er nicht vergessen.
„Hallo grüß dich!“ Jo begrüßte ihn wie einen alten Stammgast, freundlich, aber nicht ein bisschen herzlicher als andere Gäste. Michael wurde einen Moment sauer. Enttäuscht dachte er zunächst daran zu gehen, beruhigte sich jedoch schnell wieder und blieb.
Sie bekämpfte ihren inneren Aufruhr. Das Herz drohte ihr zu zerspringen und pochte ihr bis zum Hals, als wär es was Verbotenes, als hätte sie ein Tabu gebrochen, ihre Schamgrenze überschritten. Sie befürchtete, rot zu werden, wie ein Schulmädchen vor ihrer ersten Liebe.
Das gedämpfte Licht der Bar half, ihre Erregung zu verbergen. Er setzte sich wie gestern auf die Wandbank in die hinterste Ecke an der Theke, und Jo brachte ihm, einfach auf Verdacht, einen Scotch mit Wasser.
Schnell zog sie sich dann zurück, kümmerte sich um andere Gäste, froh ihre Gefühle nicht verraten zu müssen.
Die Bar war heute gut besucht und ein paar Mädchen an einem der wenigen Tische, schienen wild dazu entschlossen, einige abenteuerlustige Herren auszunehmen.
Gezwungenermaßen wurde Michael zum Beobachter, denn Jo hatte kaum Zeit, und ihn störte es wenig, dass sie sich um ihre Gäste kümmerte.
Solange ihn seine Depressionen nicht überrollten, beobachtete Michael gerne.
Es löste bei ihm eine gewisse Faszination aus, das Spiel der Mädchen zu verfolgen, die Finten und Täuschungen, den unverschämten Einsatz ihrer Reize. Wie sie erotische Spannung aufbauten und die Sinne der Spießer vernebelten, sich hinter ihrem Rücken mit dem Kellner verständigten oder einer Kollegin zuwinkten, und damit in Gegensatz zu ihrer verführerischen Weiblichkeit Signale von sich gaben, die klar zu erkennende Aussagen hatten.
Etliche betrunkene und spießige Managertypen, welche sicher auf Geschäftskosten unterwegs waren, ließen sich dankbar ausnehmen. Aufschneidende Schaumschläger warfen mit Geld um sich und verspritzten, offenbar ersatzweise, sündhaft überzahlten Champagner.
Für die Mädchen war es ein Geschäft, ein knallhartes Geschäft, anschaffen mit animieren, wie sie es gewohnt waren. Vermutlich machten die Herren ihre Geschäfte mit anderen, aber auch nicht immer seriösen Mitteln. Michael bereitete es ein gewisses Vergnügen zu sehen, wie die Herren Manager ausgenommen wurden.
Zuhause biedere Ehemänner, suchten sie auf den Geschäftsreisen ihre kleinen schäbigen Abenteuer. Warum sollten sie ihm leid tun?
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