Michael war cool, witzig und überaus gut aussehend. Er ging eine Schulklasse höher als sie, und hatte in diesem Jahr sein Abitur gemacht. Schon das ganze letzte Jahr hatte Julia ihm hinterher geschaut, und nun endlich vor drei Wochen hatte er zum ersten Mal auf einer Party auch von ihr Notiz genommen. Sie hatten den ganzen Abend miteinander geflirtet und am Ende sogar miteinander geknutscht. Sie hatte sich mit ihm dann noch einmal getroffen, wo er ihr gestand, dass er sie sehr mögen würde und sie gerne öfter treffen würde. Nun waren jedoch Ferien und sie musste unbedingt mit auf diese beschissene Insel, während sich Michael und ihre Freundinnen zu Hause vergnügten. Sie machte sich nichts vor, er war ein gut aussehender und beliebter Junge, und viele Mädchen standen auf ihn, und sie zweifelte ernsthaft daran, ob er in drei Wochen nicht jemand anderes hätte. Jemand, der nicht die Ferien mit den Eltern und der jüngeren Schwester verbringen musste. Sie hatte ihre Eltern angefleht, zu Hause bleiben zu können, doch alles bitten und betteln hatte nichts genützt. So war sie mürrisch und enttäuscht in den Flieger gestiegen und saß nun im Bus, der sie vom Flughafen in das gebuchte Hotel bringen sollte. Sie sah zum Fenster hinaus und ließ die Landschaft vorbeiziehen. Gesprochen hatte sie mit ihren Eltern während der gesamten Reise noch kein Wort.
Als der Bus wenig später vor ihrem Hotel hielt, hatte sich ihre Laune nicht wirklich gebessert. Doch das angenehme milde Klima und die Sonne hatte ihre schlechte Stimmung etwas gemildert. Da konnte Hamburg, Julias Heimatstadt, nicht mithalten. Denn trotz Anfang Juli war in Hamburg das Wetter mal wieder seit Wochen sehr feucht mit ungemütlichen 16 Grad. Um Hamburg nicht komplett schlecht zu machen, es gab auch richtig schöne Tage im Norden, an denen die Sonne den ganzen Tag schien und man vor Hitze nicht wusste, wie man sich abkühlen sollte. Doch so ein Sommer schien es dieses Jahr wieder mal nicht zu werden. Wenn es in Hamburg einmal regnete, dann nicht bloß für eine Stunde, dann gab es eben oft mehrere Tage Dauerregen.
Da Julia die Sonne und die Wärme liebte, hob das ihre Stimmung doch ein wenig und sie machte ein nicht mehr ganz so grimmiges Gesicht, als sie aus den klimatisierten Bus stieg und von einer Hitzewelle überrascht wurde. Während der Busfahrer sich daran machte, ihr Gepäck auszuladen, zog Julia sich die Stöpsel ihres Walkmans aus den Ohren und ließ ihren Blick über das imposante Hotel mit den großen weißen Säulen und den großen Palmen davor wandern. Ein Hotelangestellter kam aus dem Hotel und begrüßte ihre Eltern freundlich, dann drehte er sich um und sagte etwas auf Spanisch zu einem Mann, der gerade die Blumenbeete vor dem Hotel pflegte. Der Mann sprang sofort auf, kam zu ihnen gelaufen und machte sich auf, ihr Gepäck auf die Schultern zu laden. Da erst sah sie ihn. Ein Junge, etwa in ihrem Alter, hatte hinter dem Mann im Beet gekniet. Es war nicht zu übersehen, dass das Vater und Sohn waren, denn er war das jüngere Ebenbild des älteren Mannes. Der Junge war ebenfalls aufgestanden, doch er half seinem Vater nicht sofort mit dem Gepäck sondern sah nur sie an, nein, er starrte sie beinahe an. Julia fühlte sich von seinem Blick wie magisch angezogen und konnte den Blick ebenfalls nicht von ihm nehmen. Dann lächelte er, und irgendetwas passierte mit ihr in diesem Augenblick. Sie konnte das Gefühl nicht genau beschreiben. In ihrem Magen begann es zu kribbeln und ihre Knie fühlten sich ganz zittrig und wie Pudding an. Es war ein merkwürdiger Augenblick. Doch sie vermochte den Augenblick nicht zu unterbrechen. Der Hotelportier riss sie schließlich aus ihrer Erstarrung, indem er den Jungen auf Spanisch böse anfuhr. Julia verstand kein Wort. Nur das Wort Marcos hatte sie herausfiltern können, das war offensichtlich sein Name. Der Junge erwiderte ebenfalls etwas auf Spanisch und machte sich dann daran, das restliche Gepäck ins Hotel zu bringen.
Julia wusste nicht, was da gerade vor sich gegangen war und sie musste erst einmal tief durchatmen, um sich innerlich zu fangen, ehe sie ihrer Familie hinterher ins Hotelinnere folgte.
Julia betrat als letzte die imposante Lobby des Hotels und prallte prompt hinter der Tür mit ihrer Schwester zusammen, die sich ihr in den Weg gestellt hatte.
„Sag mal, was war denn das da eben, bitte schön?“, sagte Claudia kichernd.
„Äh, ich weiß nicht, was du meinst“, gab Julia bissig zurück.
„Ach komm schon, ich denke du weißt ganz genau, was ich meine. Wie der Typ dich eben angesehen hat, Wahnsinn.“
„Das ist doch Unsinn.“
„Nein, ist es nicht. Entweder fand er dich hübsch, oder du hast vielleicht irgendwo einen Fleck im Gesicht. Lass dich mal anschauen.“ Claudia riss ihre Schwester unsanft herum und inspizierte sie genauestens.
„Mhm, nein. Kein Fleck. Du siehst aus wie immer. Ich dachte zwar immer diese südländischen Typen stehen auf blonde Frauen, aber da du brünett bist, kann es daran wohl nicht liegen. Wohl eher an deinen langen Beinen in dieser kurzen Shorts, die du trägst. Und ich habe gedacht, ich hätte hier mit meinen blonden Haaren mehr Chancen als du, doch da habe ich mich wohl geirrt.“
„Könnte daran liegen, dass du noch ein Kind bist“, konnte sich Julia die bissige Antwort nicht verkneifen. Dieser Spruch wirkte meistens, da ihre Schwester ständig älter sein wollte, als sie war und andauernd versuchte, mit ihrer großen Schwester mitzuhalten und auch ständig dabei sein wollte, wenn sie mit ihren Freundinnen über Jungs sprach. Auch heute wirkte dieser Spruch ausgezeichnet und sie hatte die gewünschte Wirkung erreicht. Das ätzende, kindische Gekicher ihrer Schwester endete abrupt, und sie blickte Julia beleidigt an.
„Bin ich nicht. Du bist gemein.“
Im Vorbeigehen grinste sie Claudia von der Seite an, wenn es auch ein wenig gehässig war, wie sie sich selbst eingestehen musste. Doch manchmal hatte Claudia es nicht anders verdient. Dennoch tat es ihr schon ein bisschen leid, ihre Schwester so getroffen zu haben. Julia war im Allgemeinen nicht gehässig, und im Großen und Ganzen verstanden sich die Schwestern ganz gut und hatten ein sehr enges Verhältnis. Doch in den letzten Wochen und Monaten war ihre Beziehung ein wenig angespannt. Claudia fühlte sich oft zurückgestoßen und von ihr verletzt und war schnell beleidigt, wenn sie ihren eigenen Weg durchs Leben ging, und in dem ihre kleine Schwester im Augenblick keinen Platz hatte. Trotzdem lief Claudia ihr ständig hinterher, und das nervte ungeheuerlich. Julia war siebzehn Jahre alt und hatte keine Lust, mit ihrer nervigen dreizehnjährigen Schwester abzuhängen, die zudem ohnehin keine Ahnung von den Dingen hatte, die Julia beschäftigten, aber da war Claudia natürlich ganz anderer Meinung. Im Allgemeinen gesehen, war dies vermutlich eine ganz normale Entwicklung zwischen Schwestern, deren Alterunterschied fast vier Jahre betrug. Sie wurde eben langsam erwachsen, interessierte sich vorwiegend für Partys und Jungs und würde im nächsten Jahr ihr Abitur machen. Na ja, was das Letzte anging, war das leider noch nicht so sicher. Sie hatte der Schule in letzter Zeit nicht sehr viel Aufmerksamkeit und Interesse gewidmet, was sich auch in ihren Noten widerspiegelte. Nur mit Ach und Krach hatte sie in diesem Sommer überhaupt die Versetzung geschafft, ob sie da ihr Abitur im nächsten Jahr bestehen würde, stand somit in den Sternen. Doch was das Thema Schule und Noten anging, so hatte sich bei ihr eine Gleichgültigkeit eingeschlichen, die ihre Eltern schier um den Verstand brachte. Aber es gab einfach für Julia zurzeit wichtigere Dinge in ihrem Leben als die Schule, nämlich ihre Clique, Partys und eben Jungs.
Claudia hingegen spielte zum Teil noch mit Barbies und ihren Puppen, wenn auch nur noch heimlich. Doch sie hatte Claudia schon des Öfteren dabei ertappt, hatte jedoch, sobald ihre Schwester ihren grinsenden Gesichtsausdruck gesehen hatte, aus Sicherheitsgründen schnell das Weite suchen müssen, ehe sie mit irgendwelchen Gegenständen bombardiert wurde. Im Grunde, fand Julia, war ja auch gar nichts dabei, dass ihre Schwester von Zeit zu Zeit noch mit ihren Puppen spielte. Sie selbst hatte auch lange mit ihren Sachen gespielt, und sie hatte sich erst im letzten Jahr stark verändert, wie eben leider auch ihre schulischen Leistungen, sehr zum Ärger und Verzweiflung ihrer Eltern, die mit ihrem Latein so langsam aber sicher am Ende waren. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie unbedingt an dieser Reise, die in erster Linie für ihre Eltern gedacht war, teilnehmen musste. Ihre Eltern vertrauten ihr nicht mehr genug, um sie alleine zu Hause in dem trüben Norden Deutschlands zu lassen, und wenn Julia ganz ehrlich mit sich selbst war, auch nicht so ganz zu unrecht. Sie hatte die beiden in letzter Zeit zu oft enttäuscht, hatte gelogen, war häufig viel zu spät zu Hause erschienen, und sie hielt sich nur noch selten an Abmachungen. Es hatte in den letzten Monaten viele Streitereien zu Hause gegeben, kurzum sie befand sich in der rebellischen Teenagerphase eines heranwachsenden Mädchens. Zwar recht verspätet, dafür aber umso heftiger, wie ihr Vater immer sagte.
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