Das Überleben im Wald war nicht immer ein Kampf, sondern eher eine Kunst. Es ging nicht darum, gegen die Natur oder gar gegen die eigene Natur zu kämpfen, sondern vielmehr, einheimisch in der Natur zu sein und die Angebote, die sie bot, zu erkennen und zu nutzen. Das galt auch für die Angehörigen von Urmütterchens Sippe. Die Natur hatte sie mit allen nötigen Veranlagungen ausgestattet, um sich sämtliche Fähigkeiten anzueignen, damit sie im Wald überleben konnten.
Von ihren Müttern lernten alle von klein auf das dazugehörige, uralte Wissen. Es half ihnen dabei, die richtige Einstellung zu ihren angeborenen Fähigkeiten zu gewinnen und diese zu vervollkommnen. Auch dafür wurden die Mütter allseits anerkannt und über alles geschätzt.
Denn es ging nicht nur darum, zu lernen, sich in der Umgebung des Waldes zurechtzufinden, sich Nahrung und Wasser zu beschaffen und sich vor Wetter und Gefahren schützen zu können, sondern es ging auch darum, ein vielfältiges, bereicherndes und erfülltes Leben leben zu können. Für diejenigen, die das Wissen um die Kunst des Savoir-vivre - der Lebensart im Wald - hatten, war das Leben oft besonders lebenswert. Denn ein erfülltes Dasein ermöglichte ihnen allen, an sich selbst zu glauben, ein Urvertrauen in das Leben und in das eigene, innere Vermögen zu haben und immer wieder Dankbarkeit für den Reichtum der Natur zu empfinden.
So halfen die Mütter auch ihren erwachsenen Söhnen nach einem wüsten Streit, sich soweit zu beruhigen, dass sie sich wieder versöhnen konnten. Denn keine Mutter würde es jemals zulassen, dass ihr Sohn einen Streit ohne Versöhnung beendete. Streitigkeiten waren bis zu einem gewissen Grad immer für alle eine Belastung, und die Mütter wussten, dass damit der innere Friede der Sippschaft auf dem Spiel stand, so dass sie nichts dem Zufall überließen. Schließlich teilten sie Tag und Nacht ihres Lebens, so lange sie in derselben Wandergruppe wanderten. Und weil sie innerhalb der einzelnen Wandergruppen gemeinsam lebten und erlebten, bekamen sie auch viel von dem mit, was sich zwischen den anderen abspielte. Es nützte also niemandem, einen Streit nicht beizulegen und wieder Frieden zu schließen.
Weil Söhne ein Leben lang mit der eigenen Mutter wanderten, nahmen ihre Mütter auch immer Anteil am Leben ihrer Söhne, noch ein kleines bisschen mehr, als dass sie Anteil am Leben der anderen nahmen. Nach einem Streit vermittelten sie so lange, bis einer der beiden Streitenden den Wunsch nach einer Versöhnung äußerte, denn so war es in Urmütterchens Sippe schon immer gewesen. Die Mütter brachten ihre Kinder so oder so dazu, sich zu versöhnen, da gab es keinerlei Ausnahme. Durch ihre gütige Anteilnahme halfen sie den Söhnen, von sich aus darauf zu kommen, dass es Zeit war, sich zu versöhnen. Auch das half den Söhnen dabei, über ihren Schatten zu springen, wenn sie meinten, es wäre ihr eigener Einfall. Wenn sie sich dann wieder beruhigt hatten, wussten sie jedoch wieder sehr wohl, dass es die Mutter gewesen war, die ihnen dabei geholfen hatte, wieder Frieden zu schließen. Doch war es sehr wohl die Art des Lernens in Urmütterchens Sippe, dass allen zugestanden wurde, selbst herauszufinden, wie es richtig für sie war.
Auch die hochrangigsten Männer in der Sippe wurden so durch ihre Mütter besänftigt und in ihrem Sinne gelenkt, wenn sie sich zu sehr in ihre Wut hineinsteigerten und selber nicht wieder herausfinden konnten, so dass der von allen erwünschte Frieden innerhalb der Sippe erhalten blieb. Solange es Urmütterchens Sippe gegeben hatte, solange waren die hochrangigen Mütter die Vermittlerinnen des Sippenfriedens gewesen. Diese Aufgabe war ihnen derart in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie diese Fähigkeit für immer in sich tragen würden und von Natur aus wie geschaffen dafür waren, diese Aufgabe innerhalb des Sippenlebens stetig wahrzunehmen. Den Männern wäre es aufgrund des ihnen fehlenden, diesbezüglichen inneren Erbes nicht möglich gewesen, diese Aufgabe innerhalb der Sippe wahrzunehmen. Bei ihnen waren es mehr ihre Fähigkeiten zur Streitbarkeit, die zu ihrem inneren Erbe gehörten, auch wenn sie durchaus ebenso ein Bedürfnis nach Versöhnung und Frieden in sich trugen.
Wenn sich zwei Männer anschickten, sich wieder miteinander zu versöhnen, taten sie auch dies vor allem mit Rufen und Lauten und ebenso nach denselben Regeln wie beim Streiten, indem sie einander zuhörten und abwarteten, bis der andere fertig war, um selber loszulegen. Wenn die Mütter vermittelten, dauerte es manchmal eine Weile, bis sich die Männer genügend beruhigt hatten, doch wurden auch sie immer von den liebevollen Händen und Gesten der eigenen Mutter besänftigt, auch wenn sie noch so sehr aufgeregt waren, denn sie waren es sich seit ihrer Geburt gewohnt, von der Mutter beruhigt zu werden.
Der Wunsch, in Frieden miteinander zu leben, war auch bei den Männern größer als der Wunsch, zu streiten, auch wenn es immer mal wieder zum Streit kam unter ihnen. Denn sobald einer meinte, er wäre stärker als der andere und sich deswegen nicht mehr mit dem niedrigeren Rang als demjenigen des anderen begnügen wollte, forderte er ihn hinaus. Doch sobald sie ihre jeweiligen Standpunkte klar gemacht und bestimmt hatten, wer nun der Stärkere war oder ob sie beide gleich stark waren, versöhnten und vertrugen sie sich wieder. Ein Mann musste einfach wissen, woran er mit dem anderen Mann war.
Zur Versöhnung riefen sie sich, wie beim Streiten, immer noch aus einiger Entfernung, Laute zu, die ihren Wunsch nach Versöhnung und Wiedervereinigung ausdrückten. Weil sie einander auch hierbei abwechselten und einander zuhörten und darauf warteten, bis der andere fertig war, bevor sie selber ihre Gefühle frei äußerten, war es ihnen auch beiden möglich, loszulassen. So unterbrach keiner den anderen, denn beide wussten, dass sie entweder zuhören oder etwas mitteilen konnten, weil beides miteinander für sie nicht möglich war.
So ging das dann für eine Weile hin und her, ohne vom Anderen unterbrochen zu werden, bis sie alles herausgelassen hatten, das sie plagte, so dass sie sich einander wieder annähern konnten. Doch erst, nachdem sie den Bann der Entfernung überwanden, konnten sie sich wieder vertragen. Wenn sie einander wieder anerkennen konnten, berührten und umarmten sie einander, denn es gab nichts, das ein einvernehmliches Zusammensein besser zeigen konnte als eine Umarmung. In diesen Augenblicken verspürten auch die Männer eine große Erleichterung darüber, dass das Streiten ein Ende gefunden hatte.
Auch unter den Frauen konnte es zu Streitigkeiten kommen, doch meistens waren die Frauen eher darum bemüht, sich gegenseitig zu vernetzen und so den Zusammenhalt der Sippschaft zu bilden, als sich miteinander zu streiten. Wenn sich zwei Frauen nicht mochten, so wanderten sie nicht gemeinsam, so einfach war das. Sie zogen es vor, ihre Zeit mit denjenigen zu verbringen, die sie gut mochten.
Es mochte daran liegen, dass die meisten von ihnen nicht wie die Männer gemeinsam aufgewachsen waren, sondern sich erst nach ihrer körperlichen Reife kennen gelernt hatten, als sie zur neuen Sippe gestoßen waren, so dass sie viel mehr aufeinander angewiesen waren als die Männer, die so oder so dazugehörten und in der Sippe schon immer heimisch gewesen waren.
Die Männer waren froh, dass ihnen so viele junge Frauen zuwanderten, denn sie wurden zu ihren Geliebten und Freundinnen. Sie hätten es niemals darauf angelegt, die Frauen auseinander zu bringen. Zu kostbar war ihnen allen das, was ihnen die Frauen boten.
In Urmütterchens Sippe war es Sitte, alle Streitigkeiten auszutragen, egal ob sie Männer oder Frauen waren. Das gab ihnen allen die Gelegenheit, den eigenen Standpunkt geltend zu machen, so dass sie einander so anerkennen konnten, wie sie waren. Allerdings stritten die Männer nur mit den anderen Männern, nicht mit den Frauen, denn sie waren es, die die Sippe verteidigten und die sich diese streitbaren körperlichen und geistigen Fähigkeiten aneignen mussten.
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