Um seinen gleichmäßigen Gleitflug zu bewahren, bewegte der Adler die Flugfedern einzeln, ähnlich langen Fingern, und glich damit jede noch so kleine Abweichung in der Luftströmung aus. Auch seine gespreizten Schwanzfedern, mit denen er seinen Flug zusätzlich zu steuern vermochte, waren von zwei weißen Bändern durchzogen, die einen kleineren, zweiten Halbkreis in seinem Erscheinungsbild ergaben. Je höher sich der Raubvogel in die Lüfte tragen ließ, desto mehr verblasste die Zeichnung seines Gefieders. Den Kopf nach vorne und die Beine nach hinten gestreckt, ließ sich der Adler von der warmen Luftströmung fast lautlos im Aufwind höher und höher hinauftragen, bis er für die Augenpaare in den Ästen der Bäume weit unter ihm nur noch als kleiner, dunkler Umriss vor dem unendlichen blauen Himmel, auf dem sich einige Wolken bauschten, sichtbar war.
Nur der Kronenadler selbst konnte das kaum hörbare, leise Rauschen des Flugwindes hören, als er weit oben durch die Lüfte glitt. Unter ihm lag, so weit sein scharfer Blick reichte, unermesslich und endlos, der immergrüne Wald, der die Landschaft mit ihren Hügeln und den dazwischen liegenden Tälern fast lückenlos bedeckte. Die Form des Geländes unter dem grünen Bewuchs der unzähligen Baumkronen, die sich eine an die andere anschlossen, ließ sich nur erahnen, doch galt das Augenmerk des Greifvogels vor allem den Bewegungen von Tieren, die er in den Baumkronen zu erspähen suchte.
Dem Gefiederten gefiel es hoch oben in den Lüften. Hier oben fühlte er sich wohl in der Weite des Himmels, allein mit sich und der Welt.
Die Bäume des Waldes, welche die Landschaft weit unter ihm fast lückenlos mit ihrem unregelmäßigen Bewuchs bedeckten, zeichneten sich nicht nur durch all die verschiedenen Grüntöne aus, sondern sie hatten alle auch unterschiedliche Wuchshöhen erreicht und waren in ihre eigenen, unverwechselbaren Formen hineingewachsen.
Die einzigen Lücken im unendlichen grünen Blättermeer waren Lichtungen und die Wasserflächen der verschiedenen Gewässer, die hier und dort verstreut im Wald eingebettet waren. Von so weit oben sahen die vielen nebeneinander stehenden Baumkronen aus wie eine Ansammlung von großen Blütenköpfen, deren Blütenstände mit den vielen Blüten erst im Ansatz entwickelt und noch geschlossen waren. All die unterschiedlichen Grüntöne der rundlichen Gewächse, die eng beieinander standen, wurden nur hier und dort, wo ein Baum in Blüte stand und rundum von Blüten überzogen war, mit Tupfen von Rosa, Weiß, Rot, Lila, Gelb, Orange oder Ocker gesprenkelt.
Der Raubvogel stieß einen gebieterischen Schrei aus, der bis hinunter in die Baumkronen drang. Damit verkündete er, dass dieses Gebiet ihm gehörte und dass er auf der Jagd war. Waldtiere, die Im Geäst der Bäume lebten, hörten den gellenden Schrei, der augenblicklich ihre Wachsamkeit weckte. Einige Äffchen, die sich in den obersten Ästen eines mit Früchten behangenen Baumes tummelten, fuhr der Schreck in die Glieder und sie suchten Schutz unter dem Blätterdach, indem sie einige Äste hinunterkletterten. Jedes Mal, wenn dieser Raubvogel seine Jagd ankündigte und sie mit seinem Schrei bedrohte, erschraken sie innerlich zutiefst und hatten das Bedürfnis, zu flüchten.
Der Greifvogel war einer ihrer ärgsten Feinde und trachtete ihnen das ganze Jahr über nach dem Leben, denn sein Hunger trieb ihn dazu. Hatte er sie einmal erspäht und ihre Wanderrichtung ausgemacht, fehlte nicht mehr viel, dass er sie zu seiner Beute erkor. Wenn es erst einmal so weit war, nützte es den Äffchen nicht mehr allzu viel, wenn sie sich unter dem Blätterdach zu versteckten versuchten, denn er war ein schlauer Jäger, der sich zu helfen wusste. Doch bestand in diesem Augenblick keine wirkliche Gefahr. Der Adler ließ sich noch weiter in die Lüfte hinauf tragen und die Äffchen waren in Sicherheit, da er sie nun nicht mehr beobachten konnte.
Von all den Vögeln des Waldes flog der Kronenadler am allerhöchsten in den Himmel hinauf. Er liebte es, auf seinem gleitenden Rundflug von dort oben den Wald zu überblicken, soweit sein Auge reichte. Auch wenn sein Gesichtskreis keine Rundschau ermöglichte, so wurden für ihn durch die Kreise, die er einen nach dem anderen in den Himmel hinauf zog, alle Bilder, die er sah, in seiner Vorstellung zu einem großen zusammenhängenden Bild zusammengefügt.
Es war ein Bild des endlosen Grüns unter ihm und des endlosen Blaus über ihm, mit ihm mittendrin, so dass er sich als ein Teil der ihn umgebenden Ewigkeit empfand. Kurz geriet er in den Schatten einer vereinzelten Wolke, die über ihm durch den Himmel fuhr, doch schon bald darauf flog er wieder im hellen Licht der Morgensonne.
Obwohl der Adler von dort oben weit, ja sehr weit sehen konnte, so konnte er dennoch den Rand des Waldes nicht sehen. Denn der Wald, der war noch viel größer als der riesige Teil davon, den der Gefiederte sehen konnte.
Noch nie in seinem Leben war er bis an den Rand des Waldes geflogen, auch wenn er ein großes Gebiet sein eigen nannte. Es dürstete ihn nicht, fortzufliegen und die Welt zu erkunden. Es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, dass es noch eine andere Welt geben könnte als diejenige des Waldes. Hier war seine Heimat. Hier gab es alles, was er für ein erfülltes Leben brauchte. Hier zog er seine Kreise am Himmel, hier stieß er seinen unverwechselbaren Schrei aus. Und hier hatten seine Vorfahren seit vielen Zeitaltern gelebt.
Wenn der Adler so hoch hinauf flog, wie er nur konnte, dann sah er manchmal in unendlich weiter Ferne bräunlichen Staub im hellen Licht über dem Erdrand in der Luft schweben. Zwar gab es über dem Wald nirgends bräunlichen Staub in der Luft, so dass er wusste, dass dort eine andere Welt sein musste, doch weckte dies seine Neugierde nicht weiter. Er hatte ja eine Heimat und er liebte seinen eigenen Lebensraum über alles, denn er war hier geboren und kannte nichts anderes. Hier lebte er und hier würde er mit seiner Gefährtin schon bald ein Junges aufziehen. All das genügte ihm für ein erfülltes Leben. Solange er nicht unfreiwillig vertrieben wurde, würden er und seine Nachfahren hier im Wald leben. Das war einfach so und schon immer so gewesen hier im endlosen Wald. Denn, nur wer in große Not geriet, machte sich auf in neue Gefilde, um ein besseres Leben zu suchen. So weit sein Auge reichte, war er von dem unendlich scheinenden Wald umgeben, der die Erdoberfläche mit unzähligen Bäumen überzog, ein jeder eine kleine Welt für sich.
Der Raubvogel ließ sich weiter durch die Lüfte gleiten, während seine Augen dem Lauf eines breiten Flusses folgten, der sich in großen Schleifen durch den Wald wand und aussah wie eine dicke, glänzende Schlange inmitten all des Grüns.
Die strömenden Oberflächen des Fliessgewässers glitzerten golden im Licht der aufsteigenden Sonne. Wo sich der Fluss hier und dort in verschiedene Arme aufteilte, die sich flussabwärts irgendwo wieder vereinigten, waren inmitten der träge fließenden Fluten des mächtigen Stromes Inseln entstanden, die aus Sandbänken bestanden, mit Schilfgras und Gebüsch oder gar mit Wald bewachsen waren.
Für den Raubvogel stellte der Fluss kein Hindernis dar, er konnte hinfliegen, wo auch immer er wollte. Sein Auge verweilte für einen langen Augenblick auf einer ausgedehnten Lagune, die vom Wasser des Flusses gespiesen wurde und deren stille Wasseroberfläche im Licht der schräg einfallenden Sonnenstrahlen schimmernd glänzte. Von so weit oben schien es dort, wo sich unzählige rosa gefiederte Wasservögel im seichten Wasser der Lagune niedergelassen hatten, als ob dieser Teil des Gewässers mit rosa Moos bewachsen wäre.
Der Raubvogel liebte diese Ausblicke auf den Wald. Je nachdem, auf welcher Höhe er flog, sah alles ganz anders aus. Immer wieder war er entzückt über die Schönheit der ihn umgebenden Natur. All die verschiedenen Bilder, die sie ihm vermittelte, verschafften ihm Tag für Tag Eindrücke, die er mit all seinen Sinnen erleben konnte.
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