Es war eine einsame Landstraße.
Vollkommen entleert lag sie da, wie eine gewaltige, abgetrennte Ader in der späten Sommerlandschaft. Und schon ein paar hundert Meter weiter machte sie sich in einem Wald unsichtbar, ein Wald wie ein Schwarzes Loch, ein Schwarzes Loch, dessen Ränder von Fichten gesäumt wurden, die ihre Zweige hart auf den Boden drückten. Davor lag ein Feld, auf dem Mais mit abdorrenden Blättern stand, und das sich seine nord-westliche Seite am Horizont gerade stieß. Südlich davon führte ein kleiner Feldweg gebrochen in eine Wiese hinein und verlor bald jedes Ziel. Anfänglich gruben sich noch tiefe Fahrrinnen in den Boden, die nach etwa dreißig Meter müde und unverwandt verendeten. Übrig blieb niedergedrücktes, verstaubtes Gras. Und dort stand dann auch dieser sehr große, sehr schwarze Geländewagen, irgendwie unbeteiligt – ein stakbeiniger Fremdkörper in dieser Landschaft zwischen all den Nutzflächen, Wäldchen und summenden Insekten.
Wegen seiner hybriden Machart hätte er ja wenigstens einen guten halben Grund für seine Anwesenheit hier gehabt. Aber ein SUV hat etwas mit verworrenenen Sehnsüchten zu tun, mit kindlichen Sehnsüchten in ausgewachsenen Körpern, und hier, an so seinem Wagen so etwas wie Naturnähe zu suchen, käme verworrenen Sehnsüchten schon ziemlich nahe. Und dann drückte dieses riesige Fahrzeug natürlich auch ein wenig eine gewisse Art von Hilflosigkeit aus, was solche monströsen Autos nun mal tun, wie sie so unbedarft und ziellos herumstehen. Und für ihren Besitzer eigentlich gar nicht so viel mehr ausrichten können als zu fahren. Und es nie wirklich vermögen, ihn glücklich zu machen.
Die Fensterscheibe auf der Fahrerseite war zu großen Teilen auf die Landpartie unter hartherziger Sonne vorbereitet – Lichtschutzfaktor 15 hatte sich da in schmierigen Cremeinseln breitgemacht. Es war halt doch ein Wagen, an dem sich schon mal ein oder zwei technikaffine Kinder Nase und Wangen platt drückten.
Die Fahrertür hängte sich weit heraus – was die Scharniere so hergaben. Daneben, auf staubigem Boden, stand ein rahmengenähter Brogue in städtisch herablassender Arroganz. Daraus wuchsen dann erstmal anthrazitfarbene Kniestrümpfe über kräftigen Knöcheln. Später dann, auf halben Weg zum Knie, führte die Hose die Verkleidung fort, in dunklem Anthrazit natürlich. Sehr elegant war das alles, was dem feinen Zwirn auch nicht sonderlich schwer fiel. Es war eine leichte und kühle Seide–Wollmischung, die es mit der lauernden, allgegenwärtigen Hitze aufnahm. Über der Hose – das sollte doch wohl keine Überraschung sein? – die Jacke wie Hose! Sie lag um einen durchtrainierten Oberkörper, der wiederum von einem weißen Brooks Brothers Hemd eingehüllt war. Die Muskeln jedoch kamen aus dem Fitnessstudio, also Körperkosmetik in gesellschaftlichem Rahmen, nichts wovor sich eine Naturbegabung aus innerstädtischen Randbezirken fürchten müsste.
Man stand in einer schon zwei Mal flur-bereinigten Ebene.
Man hatte versucht, der in den 1970er Jahren begradigten, denaturierten Landschaft wieder etwas Leben einzuhauchen. Auch diese künstliche Beatmung hatte sie überlebt. Große und kleine Felder wechselten sich mit großen und kleinen Wiesen ab, mittendrin winzige oder nur unwesentlich geräumigere Wäldchen, die das alles wie mit Sommersprossen besprenkelten.
Man bekam doch ein wenig Ahnung von Natur und Einsamkeit, und vielleicht deshalb sähe man den Anzug lieber im oberen Stockwerk eines Bürotowers als hier, wo einen soetwas gleich wieder an kalte, urbane Ordnung erinnerte. In die obersten Etagen gehörte er dann aber auch hin. Die Hemdmanschetten schauten sogar etwa zwei Zentimeter unter den Anzugärmeln hervor. Da trug jemand ein Wissen zu Markte, was dem durchschnittlichen Businesschargen längst verloren gegangen war.
Mit der Haarfarbe des Mannes im Anzug erinnerte man sich dann wieder an die Schuhe mit den entspannten Lochzierungen in der Kappe – schwarz, of course! Mit diesem zarten bläulich–metallischen Glanz, der einen an mediterrane Aristokraten denken ließ. So etwas kann sich einer doch nicht anarbeiten, da muss doch eine günstige Geburt dahinter stecken, oder? Lag ja auch ein delikates Gesicht unter den Haaren. Eine kräftige, regelmäßige Nase, eine entspannte, volle Oberlippe. Sowas trägt einer, der seine Willenskraft nicht übermäßig anspannen musste, um seine Ziele zu erreichen. In den Augenwinkel hing ganz passend dazu noch eine Art von lächelnder Gewalttätigkeit, jedenfalls die Bereitschaft dazu, man musste allerdings schon genau hinschauen. Als ob da jemand sehr schnell, sehr unvermittelt ein paar funktionale Schläge austeilen könnte. Aber, wie schon erwähnt, nur unter Trainingsbedingungen. Oder im Konferenzraum.
Eine selbstherrliche, autokratische Sonne stand am Himmel. Allein auf blauem Himmel. Daher ließ Muffi seinen Kopf lieber unterm Autohimmel; ein Brogue draußen, außerhäusig gewissermaßen, das reichte ihm fürs Erste.
Rechterhand lag ein Feld mit hohem Weizen, von den Rändern schoben sich Gräser und Klatschmohn hinein, letzterer wie schüchtern, obwohl er sich bei den Kronblättern doch wie eine Diva hätte verhalten können. Konnte sich wohl nicht entscheiden, der Zwittrige. Die Ernte stand kurz bevor und es könnte für ihn eine verpasste Chance werden. In der Ferne klebte ein containerartiger Zweckbau am Horizont, in Streicholzschachtelgröße. Was von dem Feldweg noch übrig war, machte sich unter den Vorderrädern auf, in diese Richtung, verlor sich aber schon nach wenigen Metern in der Wiese. Muffi zog an einer Zigarette und genoß die – – –.
Alles spielte Uhr.
Was sich hier in der Luft aufhielt, summte, sirrte etwa alle fünfzehn Sekunden an der ausladend, offenen Wagentür vorbei, Wespen, Hummeln, Mücken – und was sonst noch so in eine Sommerlandschaft gehörte. Ein paar Libellen stellten sich mal freimütig in die Luft – hier – da – hier – dann – fort.
Und all das natürlich getaktet!
Klebte man nicht so an der Zeit, könnte man die Uhr danach stellen. Also, das war doch ein schönes Bild! Der Sommer hatte hier ganze Arbeit geleistet und was Einladendes für den Stadtflüchter hingepinselt, feinster Impressionismus, ockerfarbene, grünliche Farbtupfer hier und dort, ein putziges Insektchen dort. Und wenn man keine Lust auf das Landleben hatte, na, dann schaute man sich doch einfach diesen tollen, importierten SUV an. Eine Augenweide für diese ganzen stadtverwöhnten Typen, die schon beim Anblick eines Reisigzweigs ins Straucheln gerieten. Muffi gehörte allerdings zu Erstgenannten – er hatte sich manchmal an der Stadt so sattgefressen.
Er genoss den Blick über die Felder, sah Feldlerchen zu, wie sie sich mit fiepsigen Stimmchen über das Getreide schüttelten, und stellte dann zwanzig Insekten später – nur zur Erinnerung: ein Insekt alle fünfzehn Sekunden, also zwanzig mal fünfzehn, macht fünf Minuten – seinen zweiten Brogue neben den Ersten.
Aus dem Museum der Augenblicke.
Muffi stand neben dem Wagen und atmete.
Sowas kennt manch einer eben nur aus dem Museum. Ganze vier Mal ein-und ausatmen in dieser Minute. Gewöhnlich hechelte man sich doch mit fünfzehn Atemzügen durch die sechzig Sekunden, in etwa. Er hatte es nicht eilig. Also ging er langsam um den Wagen herum, kühlhauben herum, bis zur Ladeklappe, und öffnete sie. Der da unten auf dem Wagenboden lag, hatte es lange nicht so bequem. Aber museumsreif sah er doch irgendwie aus. In Reichweite, und doch so fern jeder Idylle, war er an den Hand-und Fußgelenken gefesselt, und die beiden Stricke waren mit einem kräftigen Tau miteinander verbunden. Noch dazu hatte er ein hellbläuliches Taschentuch im Mund. Eine Ecke davon hing ihm aufs Kinn heraus. Ein Monogramm – ein T mit ein paar hübsch geschwungenen goldenen Linien – war darin eingestickt.
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