“Das kannst du doch gar nicht”, sagt etwas hinter ihrer Stirn. “Dazu hast du nicht den Mut.”
Es ist wahr, sie ist noch nie einfach losgefahren - alleine. Autobahnen, Strassenkarten, Fremde, gefährliche Raststätten, Übernachtungen in einer blechernen Box.
“Es wäre eine Mutprobe”, wieder die Stimme im Inneren. “Ein Beweis, dass ich mir etwas zutraue.” Das hat sie laut gesagt.
“Aber du traust dir nichts zu”, wieder von hinter der Stirn. Sie geht mit schweren Schritten weiter. Doch nicht zu dem Kunden. Sie braucht einen Aufschub. Die Gedanken vorher waren zu ungeheuerlich gewesen. Beinahe wie ein Ausweg.
Das Cafe, in das sie geht, ist irgend ein Eis Cafe der Stadt. Zufällig gewählt.
Das sie dort ihren Freund Ilos trifft, der in ihrer Stadt mit seinem Bruder eine Bar betreibt- ist auch ein Zufall. Und das sein Bruder gerade Zeit bei seiner Familie auf einer kleinen, griechischen Insel verbringt – sprechen sie ebenfalls eher zufällig an. Doch es ist wie ein Stichword.
“Ich möchte weg von hier”, Zsófia sagt es leise aber Illos hat sie gehört. Schweigend sieht er sie an.
“Urlaub nehmen und für eine Weile weg.” Das ist eine Einschränkung, aber es ist ihr nicht bewusst.
Illos schlägt ihr vor, zu der Insel zu reisen. Zsófia stimmt zu, erleichtert über die zufällige Begegnung. Sie hatte bis eben gerade nicht gewusst, dass sie einen Wunsch zum Weggehen in sich getragen hatte. Wenn man aber glaubt, dass es keine Zufälle im Leben gibt, dann helfen Zsófia drei verhältnismässige Kleinigkeiten auf ihren Weg. Wie die ersten Mosaikstückchen in einem neuen Bild.
Ohne zu ahnen, dass genau in diesem Cafe, mit dieser flüchtigen Begegnung etwas Neues in ihr Leben kommen soll, beschliesst Zsófia auf Ilos’ Insel zu fahren.
Zufall, sagt ein Atheist.
Dein eigener Wille, antwortet ein Spiritualist. Denn es öffnen sich dort die Tore, wo du Eingang finden willst.
Karma, Schicksal oder Gottes Wille, singen die, die glauben.
Dein Höheres Selbst das für einen Moment im Einklang mit einer eigenen Wahrheit schwingt? Vielleicht.
Zsófia geht zurück zu dem Kastenwagen, ruft die Nummer auf dem Pappschild an und wartet, bis der Besitzer erscheint. Als sie den Wagen schliesslich fährt, rasselt der Diesel-Motor ein wenig. Die Federn der Achsen ächzen, wie ein altes Holzschiff. Sie mag es. Es klingt nach Abenteuer. Passend für eine Reise. Angemessen für eine Mutprobe.
Nur wenige Tage später fährt Zsófia auf der Autobahn, einen Fuss leicht hochgestellt, Musik aus den Boxen und ihr ist als sei ein Teil der seltsamen inneren Schmerzen und der Lähmung von ihr genommen. Als lasse sie etwas davon zurück. So wie auch einen Mann, der sie nicht liebt und ein Leben als Werbekauffrau in einer Stadt im Norden, in der die Skandale des Geldadels für Gespräche sorgen.
Sie kauft sich an einem Rasthof ein Buch über Schicksalsfügungen und Liebe. Oh, diese Geschichten über Zufälle und Romantik, die denen, die an glückliche Fügungen des Schicksals glauben, Nahrung für ihre Träume geben.
Zsófia und das Buch sind auf dem Weg zu dem Land der 'lächelnden Sonne' – wie Friedrich Schiller die Heimat der Griechen nannte.
In ein Land, in dem Quellen mit Nymphen, Bäume und Sträucher mit Satyrn beseelt sind und in dem alle Gaben des Lebens auf Göttinnen und Götter zurückgeführt werden. Von denen antike Geschichtsschreiber geträumt und später Fragmente niedergeschrieben haben.
Hin zu einem tanzenden Dionysos der Nebelwelten? Hin zu einer kraftvollen Athene, deren Glaubensbekenntnis das einer Kriegerin ist? Verwoben in Dialoge des Zeus und der Hera über die Essenz des Seins? Hand in Hand mit einer lächelnden Aphrodite?
Du glaubst es nicht? Zsófia hätte es wohl auch nicht geglaubt.
Wendepunkte im Leben sollten mit einer Reise beginnen. So habe ich die Geschichte der Schatzsucherin hier begonnen. An dem Tag, an dem sie den Volkswagen kaufte und sich zu einer Mutprobe überwand. Sie glaubte nicht, dass sie das, was sie suchte, finden würde, wenn sie im Gewohnten bliebe. Die Karte auf dem Fussboden ausgebreitet, folge ich ihrer Reise von Deutschland über Österreich, Ungarn, Serbien, Mazedonien bis hin nach Athen in Griechenland. Hier würde sie mit dem Schiff übersetzen um auf die Insel zu fahren, die Ilos ihr genannt hatte.
Sie war im Frühsommer von 1994 aufgebrochen. Der Zeit des blutigen Bosnia Herzegovina Krieges. Der Zusammenbruch des ehemaligen Jugoslawien sollte zu einem der Grauen erregendsten Bürgerkriege führen, die Europa seit dem zweiten Weltkrieg erfahren hatte. Zsófia schien das Ausmass der Gewalt nicht zu erfassen, als sie ihre Reise plante. Ich blättere durch ihre Aufzeichnungen. Sie erwähnt einen Anruf bei einer Spedition, die noch Fahrten durch das ehemalige Jugoslawien machte und ihr eine Route empfahl. Aber den Krieg erwähnt sie nur in einem Nebensatz, so als existiere er in einer anderen Welt solange er nur nicht die Strassen kreuzte, die sie würde befahren müssen. In einer Zeit vor Internet und youtube war Zsófia sich des Grauens der Kämpfe nicht bewusst und wohl nicht daran interessiert. Zu beschäftigt mit ihrer Expedition um Raum für das Schicksal anderer Menschen oder für internationale Belange zu haben. Ihre Unwissenheit erschreckt mich.
Vielleicht liessen die inneren Dämonen keinen Raum für mehr als das Nötigste. Wie getrieben plante sie die Reise, so als fürchte sie, sie würde nicht fahren, wenn sie nicht sofort führe. Es war keine Ferienreise die sie plante, es war eine Mission, die sie nur würde antreten können, wenn sie Furcht mit eiligem Handeln überdeckte. Ich hatte zunächst nur wage Vermutungen darüber wovor die Schatzsucherin davon lief, ich glaube nicht, dass sie selbst es wusste. Ich glaube auch nicht, dass ihr bewusst war, dass sie auf der Flucht war. Für sie war es eine Suche. Und vielleicht sind Flucht und Suche auch nur zwei Seiten der gleichen Münze.
Auf der Autobahn bemerkt Zsófia, dass die Bremsen schlecht funktionieren. An der Deutsch-Österreichischen Grenze hält sie endlich an, beginnt die Wagenpapiere zu studieren und liest etwas über Bremsflüssigkeit. Statt in eine Werkstatt zu fahren, lässt sie sich von einem Tankwart erklären, was sie kaufen muss und füllt etwas in einen kleinen Tank, von dem sie hofft das es der Tank für Bremsflüssigkeit sei. Schreibt von ihrem Triumph-Geheule als danach die Bremsen funktionieren. Von ihrem Gefühl die Königin der Strasse zu sein in ihrem alten Bus. Ich lese Gedanken eines Kindes.
Bei Regensburg beschreibt sie den Sonnenuntergang im Rückspiegel und später den Vollmond an ihrer Seite, den sie als gutes Vorzeichen für das Gelingen ihrer Reise sieht. Stunden lang ist sie verzaubert von einem grünen Nachtmond, der ihr wie eine Ampel der Hoffnung erscheint, bis sie bemerkt, dass ihre Scheibe am oberen Rande getönt ist. Zsófia ist auf der Suche nach Wundern. Getrieben von einem kindlichen Hunger und einer unbändigen Vorstellungskraft. Unwillkürlich sorge ich mich um sie. So unvorbereitet und naïve. Ich denke an meine beiden Kinder die erwachsen werden. Vergleiche sie mit Zsófia und hoffe, dass sie ein Fundament haben, um ausgeglichene Erwachsene zu werden. Hoffe, dass sie weniger einsam und unglücklich sind als die Schatzsucherin. Sicher bin ich mir nicht, denn ihre Gedanken und Träume teilen sie nicht länger mit mir. Ich glaube, sie verachten mich ein wenig. Dafür, dass ich die Gediegenheit meines Lebens mit entschlossener Beharrlichkeit ausgebaut habe. Sie sind jung und wissen noch nicht, das Stürme mit Geduld ausgesessen werden müssen - dass es manchmal besser ist nicht so genau hinzuschauen. Das Ehe und Familienleben Ausdauer und eine Fähigkeit im Erdulden benötigen. Ich habe nie auf Wunder gewartet und auf das Beständige gesetzt. Es hat sich bewährt. Doch nicht alles kann gesichert werden und mein Leben, das viele Jahre in einem beständigen Flusse gewesen war, ist plötzlich ein reissender Strom in dem Altvertrautes von mir gerissen wird und Unbekanntes neben mir treibt während ich angestrengt schwimme und versuche etwas zum Festhalten zu finden. Die Geschichte der Schatzsucherin ist ein Teil dieses Unbekannten.
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