Meine Reise ist ein Opfergang - etwas zu Ende bringen und der Geschmack im Mund ist bitter. So hatte es nicht enden sollen. So hatte ich es nicht geplant. Mein Leben war gut gewesen, überschaubar. Ich hatte gesät und geerntet. Manches gut, manches weniger gut, aber im grossen Ganzen so wie ich es gewollt hatte. Und nun sitze ich hier einen Tag nachdem Amy Winehouse gestorben ist, lese die Aufzeichnungen der Schatzsucherin und blicke dabei unwillkürlich zurück auf eine Serie von eigenen Geschichten. Ich als junge Frau im weissen Kleid in der Kirche am Arm eines anziehenden Mannes. Wir vor dem Tor einer alten Fabrik, dass unsere Unternehmen werden würde, ich mit einem kleinen Wesen im Arm, Milch und Honig, ein Engelsgesicht. Der verwilderte Vorgarten zu unserem eigenen Haus, dann ein zweiter Engel, zwei perfekte Kinder, Penelope am Tage ihrer Ballet Prüfung, Nikolas mit einer Schultüte fast so gross wie er selbst, Penelope bläst 10 Kerzen der Geburtstagstorte aus, Nikolas im Bayern-München Trikot auf Grossvaters Geburtstagsfeier, Maximilian und ich vor dem Eiffelturm an unserem fünfzehnten Hochzeitstag, Penelopes Abitur Bilder, Nikolas in seinem ersten Auto. Urlaubsbilder Südfrankreich, Thailand, Malediven. Unser Trip nach New York. Der Anbau am Haus für mein Atelier.
Ein Schnappschuss von Maximilian, wie er lachend ins Auto steigt auf dem Weg zum Flughafen. Habe ich ihn umarmt bevor er fuhr? Vielleicht.
So selbstverständlich gelebt, Sommer auf Sommer – viel zu schnell – oft zu voll, zu beschäftigt oder zu müde um dankbar zu sein. Wohlstand, gewisse Fehlschläge, Bitterkeit, Kummer. Momente der Seligkeit, Momente des Glücks. Ich war zufrieden gewesen.
Die Sonne beginnt auf meiner Haut zu brennen, ein sanfter Wind spielt mit meinem Haar - so wie er auch mit den bunten Fahnen des Marktes spielt.
Ich bin. Habe meinen Platz mit Menschen, die meinem Leben Bedeutung geben, deren Leben ich Bedeutung gebe, Räume, Rahmen, Gewohnheiten, die mich ausmachen. Und dann ein Schnitt, eine Explosion, ein Alptraum.
Bin ich? Auf einmal eine riesengrosse Wunde, die grösser zu sein scheint, als ich selbst.
Die Schatzsucherin glaubte an Wunder an der nächsten Wegbiegung.Vielleicht ist es das, was sie anders machte; ihre Träumer-Natur. Das mag sie unterscheiden von denen, die eines Tages erwachsen werden und sich mit ihrem Los zufrieden geben. Vielleicht entscheiden die meisten Menschen irgendwann, das Übliche anzunehmen. Wohlwissend das magische Momente zumeist nur in Romanen und Filmen beschworen werden. Das es Komponisten braucht, die einen Moment, eine Begegnung in einen Rahmen setzen, betonen und mit Musik übersetzen. Das es Schriftsteller und Maler braucht, um das Besondere aus dem zähen Mörtel des Alltags herauszumeisseln. Das die Poesie des Lebens eine raue Freundin ist, Eine die einsaugt und ausspuckt. Die schüttelt und beisst, raubt, tötet und frisst, um schliesslich wieder zu gebären. Ein ewiges Ein und Ausatmen, Geben und Nehmen. Die immer aufs neue gebärende Urmutter, die über Liebesschwüre, Hass, Freude, Träume, Gier, Angst gleichmütig hinweg spült, wie die Wellen des Meeres über gemalte Worte im Sand.
Auch über mich spült sie hinweg.
Antje Freund, verheiratet, zwei Kinder, berufstätig. Ich habe ein Alter erreicht, das Mittelalt genannt wird, um es weniger grausam erscheinen zu lassen. Denn es ist nicht die Mitte und es hat einen Vorgeschmack vom Ende. Ich mag mich mit Energie in neue Projekte stürzen, laut sein, da sein, um der Welt zu zeigen, das ich bin. Mich schmücken, mich reparieren und kaschieren, um meine Furchtlosigkeit dem eigenen Verfall gegenüber zu demonstrieren. Oder einfach grau werden. Grau und ein wenig unsichtbar, meine Pflicht tuend mit leicht gesenktem Kopf und einem Lächeln, damit niemand denkt, ich sei bitter darüber. Ich verliere kleine Teile meiner Körperkraft, unmerklich fast. Meine sexuelle Macht, ein paar Sommer vielleicht. Wenn die riesengrosse Wunde nicht wäre würde ich nun vielleicht ein wenig trauern, über das, was gerade geht. Ein Tod will gefühlt werden, so sagt man doch, um die Phrasen vom Neuanfang einzuleiten.
Ein sanfter Wind streicht über meine Haut. Ich würde gerne weinen können, aber meine Augen sind trocken, als sei der Schmerz zu tief in mir begraben. Vielleicht ist es auch Angst. Wenn ich die Schleusen öffne, werde ich womöglich überflutet von unerträglichen Gefühlen. Könnte darin ertrinken.
Und so schreibe ich. Schreibe die Geschichte der Schatzsucherin nieder. Auch über Zsófia spült die grosse Mutter des Lebens hinweg. Über die Schatzsucherin, die hierher kam um Flamenco-Musik zu hören, in Erinnerung an raue, langhaarige Musiker aus Andalusien, die sie gekannt hatte. Deren Herz schmerzte, und die einsam blieb, weil sie nicht finden konnte, was sie suchte. Aus dem Inneren der ‘Bar Gansa’ tönt Paco De Lucia’s Gitarre aus der Musik Anlage. Ich halte lauschend den Atem an, erwarte den klagenden, langgezogenen Gesang seines Freundes Camarón De La Isla.
Da ist er. Singt wie ein einsamer Wolf; inbrünstig, archaisch. Die Schatzsucherin hatte den Flamenco Sänger Camarón geliebt. Ich höre genauer hin, denn ich will verstehen, warum Zsófia sich zu der Musik hingezogen gefühlt hatte. Die Flamenco-Gitarre und der Mann singen, klagen, betören, beten, tanzen und wirbeln. Verstehen die Musiker, was die grosse Mutter und Welten Seele wispert, wenn wir ihren Trommeln folgen? In eine andere Zeit, uralt. Ein anderes Sein. Tief in die Mitte der Erde, Glutlava umhüllt von wundersamen Kristallwäldern.
Dort war die Schatzsucherin gewesen. Tief im Inneren und dann wieder weit draussen. Ich schaue auf ihre Aufzeichnungen. Sie muss Reisen gemacht haben, die nicht stattfinden können. Oder doch?
Waren es Träume gewesen – eine Art von Flucht? So habe ich es lange gesehen. Heute glaube ich etwas anderes. Die Schatzsucherin schreibt von einer ‘Höhle der verlorenen Kinder’. Sie erwähnt diese Höhle mehrfach in ihren Aufzeichnungen. Sie schreibt, dass sie dorthin würde reisen müssen, um ein Kind heimzuholen.
So will ich von der Schatzsucherin schreiben, denn zu lange schon wächst ihre Geschichte in mir. Will geboren werden. Ich werde diese Geschichte mit ihr zusammen schreiben. So wie es Schriftsteller tun auf der Suche nach Poesie und Magie, wahrhaft wohl – aber doch einrahmend. Denn das tatsächliche Leben der Schatzsucherin war kein Film. Es war ein Aneinanderreihen von Tagen und Jahren in einer inneren Abkapselung, von zähem Alltag, unterbrochen von wenigen Schicksals-Momenten.
Ich will die Geschichte nicht mehr in mir tragen. Will sie niederschreiben und verlassen. Und dann? Ich weiss es noch nicht.
"Ich will niemals tun, was üblich ist", schrieb sie in ihrem neunten Lebensjahr in ein Tagebuch. Mit Siebenundzwanzig Jahren hatte sich die Schatzsucherin bereits lange an dem versucht was üblich war. Es gelang ihr nicht gut denn die Kraft der Neunjährigen war ihr abhanden gekommen. Falls in ihr noch ihre Wahrheit verborgen war – sie wusste nicht, was sie war. Sie wusste auch nicht wie sie sie hätte finden könnte. “Mein Vermächtnis”, denkt sie. Auf ihrem Brustkorb eine unsichtbare Last und auch das Gehen fällt ihr schwer, als hingen Gewichte an ihren Gelenken. Sie sollte eigentlich zu einem Kunden fahren. Ihm ein Werbekonzept verkaufen. Stattdessen geht sie ziellos in der Innenstadt auf und ab. Ihr Blick streift einen blauen Diesel-VW. Keiner der runden 70’er Jahre Vans, eher ein Kasten. Mit einem Verkaufsschild im Fenster. Sie schaut flüchtig auf die handbeschriebene Pappe. 5000 Deutschmark. Langsam geht sie um den Wagen herum. Kein Rost. Späht nach oben auf ein Schiebedach. Es liesse sich bestimmt sehr weit öffnen. Man könnte im Liegen die Sterne betrachten. Fahren und den Himmel sehen. Sie sieht sich in dem blauen Kastenwagen, laute Musik, den Wind in den Haaren und einfach geradeaus. Süd-Europa, kein Ziel.
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