Ich könnte. Aber wollte ich das? Würde ich das durchstehen? Es gab ein Problem, ein zu enges Zeitfenster meiner möglichen Taten. Alles müsste wie am Schnürchen laufen. Wenn es einen Garanten der Verlässlichkeit gibt, dann ist es wohl sprichwörtlich die Schweizer Uhr. Und diese Uhr müsste für mich ticken, für mich und mein Vorhaben, welches sich nun aus dem Brodem ungeborener Hirngespinste allmählich herauskristallisierte.
Ticken Ticken Ticken, ich höre es ticken, in mir drin, tief in mir drin. Manchmal muss ich Luft holen, so wie jetzt, Luft holen, bevor ich diese Aufzeichnungen hier verbrenne, so wie immer. Luft holen, Luft holen, Luft Luft Luft, damit es durch mich durchsickert, mich durchtränkt und mich erfüllt, bevor die Störungen überhand nehmen. Das ist dann wie... aus der Achterbahn springen in voller Fahrt, hart landen, überleben, abwarten, bis sich der Schwindel gelegt hat und dann weitermachen. Aber diesmal ist ja endlich etwas Essentielles passiert.
Endlich!
Eine Ex-Freundin hat mir mal vorgeworfen, dass ich fast alle meine Sätze mit ich beginne. Sie könnte Recht gehabt haben. Außerdem ließ sie mich wissen, dass ich nicht in meiner Mitte sei, und auch in diesem Punkt muss ich ihr Recht geben. Vollkommen recht geben, denn ich bin außer Rand und Band. Mein Herz ist angefüllt mit Hass. Meine Seele ist verseucht, sie trieft vor Unglück. Aber ich habe eine Komplizin, sie ist mein einziger Halt. Sie ist ein klein wenig älter als ich, gibt mir Geborgenheit, gibt mir Kraft, schenkt mir Liebe. Auch sie ist enttäuscht vom Leben, das verbindet uns beide. Während des Geschlechtsverkehrs sagt sie manchmal ‚Oh Gott’, was ich lustig finde, denn sie betont stets, dass sie nicht an Gott glaubt. Und ich, was ist mit mir? Ich verliere mich allmählich in meinem Ich, löse mich auf, werde jemand anders, werde böse, werde der Rentner mit dem Gewehr. Das Gewehr würde nicht auffallen. Große blaue Müllsäcke mit Stecken drin zum Aufsammeln würden es tarnen.
Ich lebe seit Jahr und Tag in einem psychosozialen Moratorium. In einer Warteschleife. In einem Auffangbecken bemitleidenswerter, unverheirateter Hartz-4-Idioten, die in einem Glas voller Zierfische gehalten werden und nicht zu den Haifischen ins große Becken dürfen, weil sie noch nicht reif dafür sind, instabil sind; für unfähig gehalten werden, ohne dass es jemals offen ausgesprochen werden würde oder gar schriftlich belegt wäre. Wie in einer Endlosschleife am Service- Telefon, wo man nie und nimmer durchgestellt wird und am Ende eine Rechnung von 8 Euro erhält.
50 Patronen waren beigefügt. 50 Patronen. Was sollte ich damit anfangen? Ich wusste es noch nicht. Wusste es noch nicht. Aber dann reifte ein Entschluss in meinem Hirn. Ein Entschluss, der besagte, dass ich doch kein so guter Mensch sein konnte, wie ich es immer von mir gedacht hatte... Eine Veränderung meiner Seele, eine Veränderung meiner Welt, eine Veränderung von Allem. Ein Perspektivenwechsel der anderen Art. Um es mir selbst zu beweisen, fuhr ich mit der Bahn in ein argentinisches Restaurant in Berlin-Zehlendorf, wo mich niemand kannte, und bestellte ein Hüftsteak vom Rind, 220 Gramm, medium. Es schmeckte gut und auch gar nicht nach Blut. Auch das Bier vorneweg und den Grappa im Anschluss bekam ich locker durch den Hals. Eine psycho-gustatorische Veränderung vernetzte Zunge, Gaumen und Synapsen miteinander. Mit anderen Worten, es schmeckte mir wieder. Der Pawlowsche Hund in mir, dieses verfluchte konditionierte Biest, war begraben. Es schmeckte gut, so gut! Ich wurde auch schnell betrunken, was kein Wunder war, denn meine Leber war die eines neugeborenen Menschenkindes. Ach, das Leben war herrlich, wenn man wichtig war. Ich war jetzt wichtig, wurde wichtig, extrem wichtig. Meine geliebte Freundin und Komplizin würde mir ein Alibi geben, wenn ich aktiv werden würde. Ich musste aktiv werden. Im Geiste prostete ich meinem Onkel zu und meiner Komplizin. Niemand bemerkte etwas, niemand. Meine Gedanken waren rein privat, intim. Die Kellnerin flirtete sogar ein wenig mit mir. Vielleicht, weil ich jetzt ein Raubtier war. Im Innern. Ich gab ihr ein unangemessen hohes Trinkgeld (ich rundete 22 Euro auf 30 Euro auf), aber für mich war es angemessen, denn dieser Moment war einzigartig in meiner Historie. Ich war jetzt ein wenig wie mein Onkel aus der Schorfheide. Ich war jetzt wieder ein Fleisch-Typ geworden. Wie der Abend zu Ende ging, weiß ich nicht mehr so genau; ich bekam aber noch schemenhaft mit, verinnerlichte es quasi, war gewissermaßen durchtränkt davon, wie mein eigenes Ich, meine Identität, und wenn man so will meine Werte... wie alles zusammenschmolz in einem einzigartigen inneren Schmelztiegel des Hasses.
Ich war jetzt nicht mehr Ich. Ich war jetzt ER, der Rentner.
Zwei Tage später sah er, wie die Nachbarin, die ihm das Gewehr ausgehändigt hatte, wegzog. Ihre Freunde beluden einen stadtbekannten LKW-Verleih-Service und sahen allesamt aus wie unseriöse, unstete Menschen. Die Nachbarin, Tina hieß sie, sah ihn noch nicht einmal an, als er ihr einen ‚guten Morgen’ wünschte. Sie war weggetreten, high und down zugleich. Ein unproduktiver, unguter, uncooler Zustand. Der Rentner bemerkte dies. Sie würde als mögliche Zeugin komplett ausfallen. Es ist anzunehmen, dass sie von dem gut verschnürten ‚Golfer-Paket’ gar nichts mehr wusste. Das war das Zeichen von oben. Oder eher von unten, direkt aus der Hölle. Er hatte schon gezweifelt an seinen Plänen. Aber von nun an gab es kein Zurück, jetzt musste er aktiv werden.
Das war der Startschuss.
Die Jagd hatte begonnen.
1
Guten Tag, mein Name ist Nils Choi, ich bin Privatdetektiv.
Diese Worte fühlen sich gut an, wenn ich sie sage. Ich habe hart dafür gearbeitet. Mit einundvierzig konnte ich sie dann das erste Mal aussprechen, am Telefon. Der erste Klient, ein Koreaner. Mein erster Fall, das war vor einem Jahr. Der aufmerksame Leser wird jetzt also wissen, wie alt ich bin. Mein erster Fall war klassisch, fast ein Klischee. Es ging um Eifersucht, um Fremdgehen, um Sex, um Liebe. Der Mann bezichtigte seine Ehe-Frau, etwas mit einem anderen angefangen zu haben und ich sollte recherchieren. Der Verdacht bestätigte sich und manifestierte sich zunächst in harmlosen Fotos, die suggerierten, dass es da zwei Menschen gibt, die sich eventuell mögen, sich gegenseitig anziehen. Als ich dem Gehörnten in spe die Fotos zeigte, erhärtete sich sein Verdacht, und auch seine Faust, die sich im Restaurant Han il Kwan unter dem Tisch ballte. Der Mann liebte seine Frau, anders konnte es gar nicht sein. Denn seine Angetraute war nicht eben ein Ausbund an Schönheit, zumindest in meinen Augen. Sie war klein, dünn, hatte einen platten Hintern und unreine Haut, zuzüglich krummer Beine. Und dennoch leistete sie sich eine Affäre mit einem rassigen Argentinier, der sie um fast zwei Köpfe überragte und sogar längere und schönere Haare hatte als sie. Ganz klar, in jener Affäre ging es nicht um Liebe, sondern um Geld, was einseitig floss oder sich in hübschen Präsenten kristallisierte, von Frau zu Mann. Aber dem Herrn Park ging es um Liebe. Ich sah es in seinen Augen. Er liebte diese Frau, warum auch immer. Vor Liebe jedoch habe ich großen Respekt, darum – und auch weil es mein erster Fall war – legte ich mich für Herrn Park mächtig ins Zeug. Ich mochte Herrn Park auch gern leiden. Er roch stets gut, ging immer aufrecht, hatte Würde, hatte Stolz, war gläubig, und war weder protzig, noch fanatisch, sondern strahlte eine natürliche und stattliche Demut gegenüber dem Leben aus. Ohne dabei jemals den Anschein einer Unterwürfigkeit zu erwecken. Kurz, ein feiner Mensch. Ein so feiner Mensch, dass ich ihm meine neunjährige Tochter zur Nachmittagsbetreuung anvertraut hätte, ehrlich. Aber dazu kam es nie, denn Herr Park nahm sich kurze Zeit später das Leben.
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