Bärbel eilte davon. Es wollte den Dank der Maikäfer hören. Joachim war nicht zu sehen, der war mit seinem Busch in einer Querstraße und rannte einem Maikäfer nach.
Bärbel nahm die Kiste, lauschte einige Augenblicke daran. Wie traurig doch das Brummen darin klang! Kurz entschlossen öffnete sie den Deckel; einige Augenblicke krabbelten die Käfer noch im Innern des Kastens umher, dann spreizten sie die Flügel und – fort ging es!
Mit verklärten Blicken schaute ihnen das Kind nach.
»Jetzt fliegen sie zur Mutti und sind so froh, ach, so froh!«
Als Joachim zurückkehrte, zeigte ihm Bärbel strahlend den leeren Kasten.
»Das ist eine Gemeinheit, – was fällt dir denn ein, an meine Sachen zu gehen! Kümmere ich mich um deine Puppen?«
Es wären vielleicht noch härtere Worte gefallen, wenn nicht in demselben Augenblicke ein Maikäfer um die Köpfe der Kinder schwirrte.
»Er bedankt sich!« rief Bärbel voller Begeisterung, während Joachim hinter dem Käfer einherstürmte.
Die Großmutter rief das Kind, weil es Zeit war zum Schlafengehen. Aber Bärbel hatte heute wenig Lust und überhörte den Anruf. Sie wollte gern noch aufbleiben und auf Joachim warten, der noch immer hinter den Maikäfern herstürmte.
Frau Lindberg rief zum zweiten und zum dritten Male; und erst als ihre Stimme einen energischen Klang annahm, kam Bärbel angelaufen.
»Hast du nicht gehört, Goldköpfchen, daß ich dich mehrere Male gerufen habe?«
»Ich glaube, ich habe es erst gehört, als du dreimal gerufen hast.«
»Ist das wahr, Goldköpfchen?«
Das Kind schmiegte sich an Frau Lindberg und sagte kleinlaut: »Jetzt hat Bärbel gelügt, Großmama.«
»Sollst du das tun?«
»Nein, – aber wir beten zusammen, und dann wird der Schutzengel nicht böse sein.«
»Ich will dir einmal etwas sagen, Goldköpfchen. Man muß immer gehorsam sein und den Eltern und der Großmama folgen.«
»Auch dem Großpapa?«
»Natürlich, allen erwachsenen Leuten. Du weißt doch, was dann geschieht, wenn ein Kind ungehorsam ist.«
Bärbel nickte. »Ja, dann gibt es Haue.«
»Nun komm, es ist die allerhöchste Zeit, daß du zu Bett gehst. Nun lauf rasch noch zur Mutti und den Brüderchen, sage ihnen ›Gute Nacht‹ und gehe dann zum Vati. Ich warte auf dich.«
Folgsam begab sich das Kind ins Schlafzimmer der Eltern.
Frau Wagner, die noch immer das Bett hüten mußte, küßte Bärbel zärtlich.
»Mußt du denn immer noch krank sein, Mutti?«
»Bald stehe ich auf.«
»Siehst du, Mutti, das haben wir nun davon, weil das olle Zwilling gekommen ist. Wir hätten doch viel anderes notwendiger gebraucht. – Ich habe keinen Esel mehr. – Verkauf’ doch das Zwilling!«
In demselben Augenblick begann einer der Knaben zu schreien. Bärbel warf dem Säugling einen zornigen Blick zu.
»Ekliges Ding!«
»Aber, Bärbel«, mahnte die Mutter, »deine kleinen Brüderchen kommen aus dem Himmel.«
»Ja, Mutti, aber dort haben sie sie rausgeschmissen, weil das Zwilling immerzu schreit. Da haben die Englein gesagt: schrei nicht, oller Zwilling, oder du mußt runter. Ach«, ein tiefer Seufzer hob des Kindes Brust, »nun haben wir sie gekriegt.«
»Du irrst, Goldköpfchen, gerade weil es die allerniedlichsten Bübchen waren, darum hat der liebe Gott gesagt: bringt die beiden Knaben der kleinen Bärbel als Spielzeug.«
Goldköpfchen rümpfte die Nase, aber es schwieg. Noch einmal wurde es von der Mutter zärtlich geküßt, dann ging es, ohne sich um die Babys zu kümmern, aus dem Zimmer.
Beim Ausziehen hatte die Großmutter ihre liebe Not. Bärbel spielte Schmetterling, breitete beide Arme aus; und so war es unmöglich, ihm das Nachtröckchen anzuziehen.
»Jetzt sei vernünftig, mein Kind, und laß die Arme hängen.«
Das Nachtröckchen wurde angezogen, aber auf Bärbels Stirn stand schon wieder eine nachdenkliche Falte.
»Was hast du denn?« fragte Frau Lindberg, die genau wußte, daß die Kleine von einer neuen Idee gequält wurde.
»Großmama!«
»Nun?«
»Hättest du mir das Nachtröckchen nicht anziehen können, wenn ich die Arme weit aufgemacht hätte?«
»Nein.«
»Großmama, wer zieht denn den Engeln die Nachtröckchen an?«
»Die kleinen Engel werden von den großen Engeln angezogen.«
»Wie machen es denn die großen Engel, um die Nachtröckchen über die Flügel zu bekommen?«
»Die Nachtröckchen haben hinten einen Schlitz, dort stecken die Englein ihre Flügel durch.«
»Ach, Großmutter, wir machen in mein Nachtröckchen auch einen Schlitz, dann stecke ich die Arme auch wie Flügel durch!«
»Schlaf jetzt, mein liebes Goldköpfchen. Bei den Engeln ist das ganz anders als bei den Menschen.«
»Nun ja, wenn sie einen Schlitz haben.«
Frau Lindberg ging nochmals durch das Zimmer, das sie seit einigen Tagen mit Bärbel bewohnte, und öffnete die obere Scheibe des Fensters, weil es schwül war. Bärbel verfolgte ihr Tun mit größter Spannung.
»Komisch, Großmama, daß der große Schutzengel mit den langen Flügeln zu so einem kleinen Fenster hereinrutschen kann.«
»Schlaf nun endlich, Goldköpfchen.«
»Großmama, – kann der böse Teufel auch durch so eine kleine Scheibe?«
»Wenn du artig bist, jagt der Schutzengel den Teufel hinaus.«
»Ach, Großmama, Bärbel möchte wohl einmal sehen, wenn der Schutzengel den Teufel verhaut!«
Frau Lindberg näherte sich der Tür, dort wandte sie sich nochmals um.
»Wenn du jetzt nicht ruhig bist, mein Kind, schlafe ich bei Joachim.«
Ein silberhelles Lachen ertönte. »In dem kleinen Bett? Ach, Großmama, da gehst du ja gar nicht ’rein!«
Frau Lindberg verschwand aus dem Zimmer. Sie wußte, daß sie dieser Abendunterhaltung stets ein gewaltsames Ende bereiten mußte, denn gerade des Abends hatte Bärbel Hunderte von Fragen auf dem Herzen.
Das Kind aber blinzelte nach der offenen Scheibe, betrachtete dann das Bild an der Wand, auf dem ein Schutzengel ein Kind behütete, und philosophierte nochmals:
»Heut wird der Himmel wohl nur einen kleinen Schutzengel schicken, der durch die Scheiben durchrutschen kann. – Ob der wohl auch den großen Teufel verhauen kann?« Und schließlich endete das Nachdenken in dem Gebet, daß der große Teufel von dem kleinen Schutzengel tüchtig geprügelt werden möge.
Als Frau Lindberg zwei Stunden später das Schlafzimmer betrat und nochmals am Bett des Kindes stand, schlief Goldköpfchen schon lange sanft. Es lächelte sogar und schien einen schönen Traum zu haben. Geräuschlos entkleidete sie sich, und bald verkündeten ihre regelmäßigen Atemzüge, daß sie in tiefen Schlummer gesunken war.
Unruhig warf sich Bärbel auf die Seite. Sie schüttelte das Köpfchen, machte schließlich die Augen auf und merkte, daß irgend etwas über ihr Gesicht krabbelte.
»Uch –!«
Die Hände des Kindes griffen nach der Wange.
»Mutti, – Mutti!«
Frau Lindberg fuhr aus dem Schlafe aus.
»Ein großes olles Tier schläft in Bärbels Bett!«
Frau Lindberg sprang heraus, drehte das elektrische Licht an und eilte zu dem aufrecht sitzenden Kinde.
»Weg ist es!«
Aber da kam es schon wieder hervor.
»Uch –!«
Es war ein Maikäfer.
»Das Tierchen hat sich verflogen«, sagte Frau Lindberg beruhigend, denn Bärbel stand in ihrem Bettchen und drückte die Arme fest an den Körper.
Aufgeregt lief der Käfer über die Decke. Frau Lindberg nahm ihn und ließ ihn durch das geöffnete Fenster fliegen. Goldköpfchen schaute dem Tierchen nach.
»Ein Schutzengel soll kommen, und ein oller Maikäfer ist da.«
»Das Tierchen hat sich verflogen, Goldköpfchen.«
»Großmama, – das ist gewiß einer von denen, die Bärbel heute aus Joachims Kiste gelassen hat.«
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