Vor ihr lag ein dunkler Flur, Schatten deuteten Türöffnungen an. Alles war ruhig. Carmen schlüpfte in den Gang und schloss behutsam den Eingang zum Saal. Erstaunt stellte sie fest, dass es hier muffig roch, nach altem, nassem Gemäuer, nicht, wie sie erwartet hatte, steril wie in einem Krankenhaus. Darauf bedacht, die Füße so geräuschlos wie möglich aufzusetzen, schlich sie zum Ende des Gangs und zu einem sich anschließenden Treppenhaus. Sie entschied sich, den Weg nach unten zu nehmen.
Zwei Etagen tiefer fand sie endlich den ersehnten Ausgang. Durch ein kleines, in die Tür eingelassenes Fenster konnte sie auf den Hof eines Fabrikgeländes hinausschauen. So vermutete sie zumindest, da sich alte, aus Backstein errichtete Lagerschuppen an größere Gebäude schmiegten, und weiter hinten konnte sie schemenhaft einen hohen Schornstein erkennen. Draußen war Nacht, und dichter Nebel hüllte die Szenerie ein. Eisig lief ein Frösteln über ihre Haut, und sie wurde sich ihrer Nacktheit bewusst. Doch Kleidung zu finden, war im Moment von untergeordneter Bedeutung. Erst einmal musste sie von hier verschwinden.
Wie ein Phantom huschte sie nach draußen und verschwand im nächsten Schatten. Sie lauschte erneut auf verdächtige Geräusche, doch das ganze Gelände lag verlassen da. Nichts deutete darauf hin, was sich hinter diesen Mauern abspielte. Carmen tastete sich von Schuppen zu Schuppen, bis sie vor einem maroden Maschendrahtzaun stand. Zum Glück war er an vielen Stellen löchrig, zum Teil lag er ganz am Boden. Mit großer Vorsicht, da ihre Füße ungeschützt waren, stieg sie über die Überreste des Zauns, um dann über eine angrenzende Wiese zu einem Maisfeld zu laufen. Zwischen den mannshohen Stauden tauchte sie unter und verschwand.
Philadelphia
Roger Thorn war verdreckt und lag, nahe der Interstate - in diesem Teil der Stadt Lincoln Highway genannt -, unter einer Brücke. Mitten im Straßengewirr hatte die Stadt freundlicherweise jede Menge Bäume gepflanzt, die in all dem Beton eine grüne Insel bildeten. Diese Grünzone, fast ein kleiner Park, wurde von der Vine Street, der Interstate 676 und weiteren Straßen begrenzt. Dies war ein beliebter Platz für Obdachlose, Tramps und Leuten, die eine Weile von der Bildfläche verschwinden wollten. Genau das beabsichtigte auch Roger. Seine Verfolger mussten seine Spur längst verloren haben, und er hoffte, dass dem Hippiepärchen nichts zugestoßen war. Nie hätte er geglaubt, diesen Tag zu überleben. Doch umso besser. Auf seinem W;g aus den Wäldern hinaus nach Philadelphia hatte er Rache geschworen. Er würde diese Schweinehunde zur Strecke bringen, denen ein Menschenleben weniger bedeutete als der Dreck unter ihren Fingernägeln. Er wollte sie erwischen, sie alle, bis hinauf zu den Bossen, den Leuten, die das Ganze inszenierten, um Geld und Macht an sich zu raffen. Roger war nach Philadelphia gekommen, weil er hier auf Unterstützung hoffen konnte. Vor einiger Zeit hatte ihn ein Auftrag in diese Stadt geführt, und im Zuge der Ermittlungen hatte er sich die Gunst einiger Leute sichern können, indem er sie vor dem Gang ins Gefängnis bewahrte. Das war zwar nicht ganz legal gewesen, aber es wusste ja niemand von seinen Kontakten. Zudem hoffte er, dass seine geheimen Depots - einige Waffen und Bargeld - unentdeckt geblieben waren.
Es war kurz vor Sonnenaufgang, und selbst die hartgesottensten Säufer waren unter alten Kartons und Zeitungen eingeschlafen. Vorsichtig erhob sich Roger und verließ auf leisen Sohlen das Lager. Auf seinem Weg in die Stadt benutzte er Nebenstraßen und achtete peinlichst darauf, nicht von einem übereifrigen Cop aufgegriffen zu werden. Zuerst führte sein Weg durch Chinatown, wo schon zu dieser frühen Stunde emsige Händler ihre Obst- und Gemüsestände aufbauten. Danach durchquerte er eiligst Downtown, wo er schließlich in der Sansom Street ein öffentliches Telefon fand. Aus dem Gedächtnis wählte er eine Nummer und wartete geduldig, bis am anderen Ende der Leitung jemand den Hörer abnahm. Eine missmutige, knurrige Stimme meldete sich mit einem »Was ist? Wer ruft denn da schon in aller Herrgottsfrühe an? Eine Unverschämtheit, das!«
Roger grinste, denn es war völlig egal, zu welcher Zeit man Henry Rolin anrief: Es war immer die falsche Zeit. Dass Henry am Apparat war, hatte Roger schon nach dem ersten Wort erkannt.
»Guten Morgen, Henry. Hier ist Roger. Du erinnerst dich bestimmt noch an mich. Oder? Wehe, wenn nicht, dann kannst du deine schlechte Laune bald an einem liebenswürdigen Gefängniswärter auslassen. Hast du mich verstanden?«
»O je, der Staatsbulle«, entfuhr es Henry. »Du hast mir gerade noch zu meinem Glück gefehlt.«
»Wusste ich doch«, antwortete Roger schon fast amüsiert, gleichzeitig aber auch sehr froh darüber, dass er Henry erwischt hatte.
»Was willst du denn?«, knurrte der schon wieder.
»Als Erstes, Henry, will ich, dass du deinen Hintern in dein Auto schwingst und mich Sansom Street Ecke zwanzigste Straße abholst. Alles Weitere erkläre ich dir dann. Erschreck dich aber nicht, ich sehe heute etwas heruntergekommen aus.«
»Heute?«, antwortet Henry, hängte aber sofort auf, ohne auf eine Antwort zu warten.
***
Der Saal
Um kurz vor halb zehn rumpelte ein alter, verbeulter Lieferwagen auf den Hof des Fabrikgeländes. Auf dem zerkratzten Kastenaufbau stand in kaum noch leserlicher Schrift Schrotthandel Mac Mullen. Doch der Lieferwagen war keineswegs in so schlechtem Zustand, wie es schien. Der Wagen war nur aus Gründen der Tarnung so hergerichtet worden. Keinem zufälligen Beobachter würde es eigenartig vorkommen, den Transporter eines Schrotthändlers auf dem alten Fabrikgelände zu sehen.
Kurz vor dem Hauptgebäude hielt der Wagen an, und zwei Männer mittleren Alters stiegen aus. Sie trugen große, lederne Taschen und verschwanden kurz darauf im Haus. Es waren die gleichen Männer, die Carmen am Abend zuvor beobachtet und belauscht hatte. Zielstrebig stiegen sie die Treppen zum zweiten Stock hinauf und begaben sich zunächst in ein kleines Labor. Dort zogen sie ihre grünen Kittel über und legten aufgezogene Spritzen, Tupfer und Desinfektionsmittel auf den silbrigen Wagen.
Mit ironischer Stimme sagte der Größere der beiden: »Na, dann wollen wir mal unsere Visite machen. Außerdem wartet ja noch die Schönheit auf ihre Behandlung.«
Der andere Mann schüttelte nur besorgt den Kopf und schob den Wagen durch die Tür. Der Größere folgte fröhlich feixend. Kaum im Saal angekommen, fiel den Männern auf, dass Carmen nicht mehr in ihrem Bett lag. Sie ließen den Wagen stehen und rannten zwischen den Bettreihen hindurch. Ärgerlich drehte sich der kleinere der Männer zu seinem Kumpan um und schrie aufgebracht: »Wann hast du der Frau die letzte Injektion gegeben?«
»Ich?«, empörte sich der Angesprochene. »Wieso sollte ich der Schlampe die Injektion geben? Du warst an der Reihe. Du wolltest doch nicht, dass ich die Tante überhaupt anfasse.«
»Anfassen?«, schrie der kleinere Mann seinen Kollegen an. »Ich wollte nicht, dass du die Spenderin befummelst, auf deine kranke, sexistische Art. Das heißt aber nicht, dass du ihr keine Injektion geben sollst. Bist du denn völlig verblödet? Was meinst du, was nun geschieht? Der Boss wird außer sich sein vor Wut. Da kannst du dich auf was gefasst machen.«
»Wieso denn immer ich?«, maulte der andere, schon etwas kleinlauter.
»Ich muss den Boss anrufen«, murmelte sein Kollege. »Wir müssen wissen, was nun zu tun ist. Mann, das wird Ärger geben. Mannomann.« Damit drehte er sich um und eilte dem Ausgang der Halle zu.
Der größere Mann stand eine Sekunde wie versteinert da. In dieser kurzen Zeitspanne wurde ihm klar, dass er und sein Partner sich in einer sehr gefährlichen Situation befanden. Ihr Arbeitgeber kannte keine Gnade, und das Mindeste, womit die beiden rechnen mussten, war eine sehr unangenehme Befragung. Weiter wollte er gar nicht denken. So lief er schnell hinter seinem Kollegen her und rief, einer plötzlichen Intuition folgend: »Frank, warte mal! Lass uns erst mal nachdenken, ehe du anrufst. Wir können das Ganze ausbügeln, und der Boss wird nichts merken. Du weißt doch, wie er ist. Frank, nun bleib doch mal stehen!«
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