Mogli saß, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, und blickte über die Täler hinweg nach der Sonne. Irgendwo in den Wäldern übte ein Vogel mit rauher Stimme die ersten Töne seines Frühlingsliedes. Nur ein schwacher Abglanz war es des fließenden, quellenden Rufs, der sich später aus der Kehle des kleinen Sängers ergießen würde; aber Baghira verstand ihn.
»Ich sagte, die Zeit der ›Neuen Rede‹ sei nahe«, schnurrte der Panther, leicht mit dem Schweif schlagend.
»Ich höre«, gab Mogli zurück. »Baghira, warum erschauerst du über und über? Die Sonne scheint doch warm.«
»Ferao ist das, der scharlachrote Specht«, sagte Baghira. »Der weiß es noch. Nun muß auch ich meinen Gesang üben.«
Und er begann, vor sich hin zu schnurren und zu purren, fing aber immer wieder unbefriedigt von vorne an.
»Kein Wild ist in der Nähe«, sagte Mogli.
»Sind deine beiden Ohren verstopft, kleiner Bruder? Kein Jagdruf ist das, sondern mein Lied, das ich rechtzeitig üben muß.«
»Ach ja, ich vergaß. Aber ich werde es schon merken, wenn die Zeit der ›Neuen Rede‹ da ist. Denn dann läufst du fort und die anderen auch – verlassen bin ich dann von allen.« Mogli sprach ziemlich aufgebracht.
»Aber wirklich, kleiner Bruder«, begann Baghira, »nicht immer tun wir das ...«
»Dennoch tut ihr das!« rief Mogli und schnalzte ärgerlich mit den Fingern. »Ihr rennt fort, und ich, der Herr der Dschungel, muß einsam wandern. Wie war es in der vergangenen Jahreszeit, als ich Zuckerrohr auf den Feldern des Menschen sammeln wollte? Einen Läufer sandte ich aus – dich sandte ich – zu Hathi, um ihn zu bitten, er solle in der folgenden Nacht kommen und mit dem Rüssel das Süßgras für mich pflücken.«
»Nur zwei Nächte später kam er«, sagte Baghira, sich ein wenig duckend. »Und von dem langen Süßgras raffte er mehr zusammen, als ein Menschenjunges in sämtlichen Nächten der Regenzeit verzehren kann. Nicht meine Schuld war es.«
»Aber er kam nicht in der Nacht, für die ich ihn bestellt hatte. Nein, trompetend lief er durch die Täler und brüllte im Mondlicht. Seine Fährte war breit wie die Fährte dreier Elefanten; denn er suchte nicht Deckung unter den Bäumen. Vor den Häusern des Menschenvolks tanzte er im Schein des Mondes. Ich sah ihn, aber zu mir wollte er nicht kommen – und ich bin Herr und Meister in der Dschungel.«
»Es war die Zeit der ›Neuen Rede‹«, meinte der Panther sehr demütig. »Vielleicht, kleiner Bruder, riefst du ihn damals nicht mit einem Meisterwort. Lausche dem Lied Feraos und freue dich.«
Moglis üble Laune schien auf einmal dahingeschwunden. Die Arme unter dem Kopf verschränkt, lag er auf dem Rücken mit geschlossenen Augen. »Was weiß ich davon – auch kümmert's mich nicht«, sagte er schläfrig. »Schlummern wir, Baghira. Schwer ist mein Wanst in mir. Einen Ruheplatz mache für meinen Kopf.«
Der Panther legte sich abermals nieder, aber mit einem Seufzer, denn er hörte Ferao den Sang für die Frühlingszeit der »Neuen Rede« wieder und wieder üben.
In der indischen Dschungel greifen die Jahreszeiten fast ohne Übergang ineinander. Nur zwei scheint es zu geben, die nasse und die trockene Jahreszeit. Beobachtet man aber genauer, so findet man, daß unter Regenstürzen und Wolken von Moder und Staub alle vier Jahreszeiten sich in regelmäßiger Folge ablösen. Am schönsten ist der Frühling. Er zaubert nicht aus kahlem Boden neue Gräser und Blumen, an kahlen Ästen neue Blätter hervor, wie der Frühling Europas; vielmehr treibt er die fahlgrünen überlebenden Reste, die der milde Winter übrigließ, vor sich her, fegt alles rein und macht die halbbekleidete Erde wieder jung und neu. Ganz gründlich besorgt er das, und so kommt kein Frühling der Welt dem Dschungelfrühling gleich in Reiz und Frische.
Ein Tag ist da, an dem ist alles müde, und selbst die Gerüche und Dünste, die in der schweren Luft treiben, sind alt und verbraucht. Man kann das nicht erklären, aber man fühlt das. An einem anderen Tage scheint für das Auge noch nichts verändert, plötzlich riecht die Luft froh und neu, bis zur Wurzel erbeben die Bärte des Dschungelvolks, das Winterhaar fällt in langen, zottigen Flocken von ihren Flanken. Ein leichter Regen durchtränkt den Boden, und Bäume, Büsche, Bambushaine, Moose, Pflanzen mit saftigen Blättern erwachen zu drängendem Leben. Man vermeint sie förmlich wachsen zu hören. Und daneben hört man ein tiefes Summen bei Tag und Nacht, ein vibrierendes Tönen; das kommt nicht von Bienen noch fallenden Wassern noch vom Winde in den Wipfeln der Bäume – es ist das Geräusch des erwachenden Frühlings, das Surren und Schnurren der warmen, lebensfreudigen Erde.
Bisher war der Wechsel der Jahreszeiten immer Moglis ganzes Entzücken gewesen. Als erster stets entdeckte er das Frühlingsauge im hohen Grase verborgen blühen, sah das erste zarte, schimmernde Frühlingsgewölk, dem nichts in der Dschungel an Schönheit gleicht. Seine Stimme erscholl an allen feuchten blühenden, sternenbeglänzten Pfützen; dort sang er mit den großen Fröschen im Chor oder ahmte das eintönige Pfeifen der kleinen närrischen Eulen nach, die durch die weißen Nächte riefen. Wie für alles Dschungelvolk war für ihn der Frühling die Zeit der weiten Läufe; aus überquellender Freude am Toben und Rennen schweifte er durch die warme Luft, dreißig, vierzig, fünfzig Meilen zwischen Abenddämmer und Morgenstern, und kehrte atemlos zurück und mit fremdartigen Blumen bekränzt. Seine vier Wölfe folgten ihm nicht auf seinem wilden Dschungellauf; sie wechselten fort und sangen mit den anderen Wölfen ihre Gesänge. Das Dschungelvolk ist im Frühling sehr geschäftig; Mogli hörte sie grunzen, kreischen, keckern und pfeifen, je nach ihrer Art. Fremd klangen dann die Stimmen, anders als in anderen Jahreszeiten, und deshalb nennen sie den Frühling die Zeit der »Neuen Rede«.
In diesem Frühling aber trug Mogli ein sonderbares, nie gekanntes Gefühl im Wanst, wie er Baghira erzählte. Schon als die Bambussprossen sich fleckig braun färbten, hatte er sehnsüchtig den Morgen erwartet, an dem alle Düfte neu sein würden. Aber als dann der Morgen kam, als Mor, der Pfau, strahlend in Bronze, Blau und Gold, laut den Anbruch des Frühlings durch die dampfenden Wälder rief und Mogli den Mund auftat, um den Ruf weiterzugeben, da stockte ihm das Wort in der Kehle. Ein Gefühl überkam ihn, das seinen ganzen Körper vom Kopf bis zu den Zehen durchrieselte, wie ein richtiger Schmerz war es, so daß er nachsuchte, ob nicht irgendwo ein Dorn in seinem Körper steckte. Mor rief: »Die neuen Gerüche sind da!« Die anderen Vögel gaben den Ruf weiter; und Mogli hörte von dem Geklüft am Waingunga her Baghiras heisere Stimme, halb wie Adlergeschrei, halb wie Rossegewieher. Die Affenvölker kreischten und schaukelten in den junggrünenden Ästen, und Mogli stand da, die Brust geschwellt, um mit Mor zu jubilieren, aber nur in kleinen Seufzern entlud sich die Spannung, und ein unerklärlicher Kummer ergriff ihn.
Er blickte um sich, aber er sah nur das närrische Affenvolk sich in den Zweigen tummeln und Mor, den glänzenden Schweif weit gespreizt, auf den Hängen verzückt tanzen.
»Neu wehen die Düfte!« rief Mor. »Gute Jagd, kleiner Bruder! Wo bleibt deine Antwort?«
»Kleiner Bruder, gute Jagd!« pfiff Tschil, der Geier, und kam mit seinem Weibchen herabgeschossen. Beide stoben so dicht an Moglis Nase hin, daß ein Büschel weißer Flaumfedern vor ihm niederfiel.
Ein leichter Frühlingsregen, Elefantenregen nennen sie ihn, strich über die Dschungel im Umkreis von einer halben Meile dahin, ließ die jungen Blätter naßtropfend zurück und erstarb in einem Doppelregenbogen und leichtem Donnergrollen. Das Frühlingssummen schwoll an für Augenblicke, verstummte wieder; und dann schien das ganze Dschungelvolk mit eins die Stimme zu erheben. Nur Mogli nicht.
Читать дальше