Diesmal bekam Mogli Angst: »Hier ist er auch«, sagte er halblaut. »Er ist mir gefolgt.« Und er blickte scheu über seine Schulter rückwärts, um zu sehen, ob dieser »er« etwa hinter ihm stände. »Niemand ist hier.«
Weiter raunten die Nachtgeräusche in den Mooren, aber weder Vogel noch ein anderes Tier sprach zu ihm, und das neue Gramgefühl schien ins unendliche zu wachsen.
»Sicherlich habe ich Gift gegessen«, sagte er, und seine Stimme bebte vor Furcht. »Aus Versehen muß ich es geschluckt haben, denn meine Stärke verläßt mich. Ich habe mich gefürchtet, und doch war ich es nicht, der sich fürchtete« – Mogli hatte Angst gehabt, als die beiden Wölfe miteinander kämpften. »Akela, ja selbst Phao würden sie zur Ruhe gebracht haben, aber Mogli fürchtete sich! Sicherstes Zeichen dafür, daß ich Gift geschluckt habe. Aber was fragen die in der Dschungel danach? Sie singen, heulen und laufen in Rudeln unter dem Mond, und ich – o weh! – muß sterben in den Morästen, an dem Gift, das mir im Leibe sitzt.«
Er tat sich selbst so leid, daß er am liebsten laut geweint hätte.
»Und nachher«, klagte er weiter, »werden sie mich hier finden in dem schwarzen Wasser. Nein, ich will doch lieber heimkehren nach meiner Dschungel, um auf dem Rätefelsen zu sterben. Baghira, den ich liebe – wenn er nicht singend durch das Tal rennt –, Baghira wird vielleicht Totenwacht halten bei meiner Leiche, damit Tschil nicht mit mir tut, wie er mit Akela getan hat.«
Eine dicke warme Träne fiel ihm aufs Knie, und elend, wie Mogli war, fühlte er sich doch wieder glücklich, daß ihm so elend zumute war – wenn euch diese auf den Kopf gestellte Glückseligkeit bekannt ist. »Als Tschil, der Geier, Akela aufzehrte«, wiederholte er, »errettete ich in derselben Nacht das Pack von den roten Hunden.« Er schwieg und dachte eine Weile an die letzten Worte des Einsiedelwolfes, deren ihr euch wohl entsinnt. »Viel Unsinn redete Akela zu mir, bevor er starb, denn wenn wir sterben, dann ändert sich in uns der Wanst. Er sagte... aber dennoch, ich bin von der Dschungel!«
Mogli dachte an die Schlacht am Waingungastrande, und vor Erregung schrie er die letzten Gedanken so laut in die Nacht hinein, daß eine wilde Büffelkuh im Schilf aufsprang und schnaubte: »Ein Mensch!«
»Uuh!« brummte Mysa, der wilde Büffel (Mogli hörte, wie er sich im Schlamm wälzte), »das ist nicht Mensch, nur der haarlose Wolf vom Sionipack ist es. Hin und her rennt er in solchen Nächten.«
»Umh!« machte die Kuh und senkte den Kopf, um weiter zu grasen. »Ich hielt ihn für einen Menschen.«
»Nein, sage ich! He! Mogli, ist Gefahr im Anzuge?« brummte Mysa.
»He! Mogli, ist Gefahr im Anzuge?« gab der Knabe spottend zurück. »Das ist alles, woran Mysa denkt, ob Gefahr ist. Aber Mogli, der Tag und Nacht durch die Dschungel wechselt und für euch beide wacht, was kümmert euch Mogli?«
»Wie laut er brüllt«, sagte die Kuh.
»So schreien sie«, antwortete Mysa verächtlich, »die Gras ausreißen und es nicht fressen können.«
»Für weniger als dies«, stöhnte Mogli, »für weniger als dies hätte ich dich noch in der letzten Regenzeit aus dem Schlamm aufgestachelt und mit einem Binsenzaum durch den Sumpf geritten.« Müde griff er mit der Hand nach einer faserigen Binse, ließ sie aber seufzend wieder sinken. Ruhig fuhr Mysa mit dem Wiederkäuen fort.
»Hier sterben, das will ich nicht!« rief Mogli zornig. »Mysa würde mich sehen, der von gleichem Blut ist mit Tschakala und dem Schwein. Von den Morästen will ich jetzt fort und sehen, was kommt. Niemals lief ich einen ähnlichen Frühlingslauf – heiß und kalt auf einmal. Auf, Mogli!«
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich durch das Schilf an Mysa heranzupirschen und ihn von hinten mit der Spitze des Messers zu stechen. Wie eine platzende Granate schoß der riesige, triefende Bulle aus dem Schlamm heraus, und Mogli lachte, daß er sich die Seiten halten mußte.
»Verkünde nun, Mysa, der haarlose Wolf vom Sionipack hat dich einmal gehütet«, rief er.
»Wolf! Du?« schnaubte der Büffel und stampfte wütend den Schlamm. »Die ganze Dschungel weiß, daß du Hüter warst des zahmen Rindviehs, ein Menschenknirps, der drunten bei den Feldern herumschreit. Du willst von der Dschungel sein? Welcher rechte Jäger von der Dschungel würde sich wohl wie eine Schlange zwischen Blutegeln durchschleichen, nur um einen so schlammigen Spaß zu machen und mich vor meiner Kuh zu beschämen? Komm nur auf festen Grund – dann will ich – will ich...« Mysa schäumte vor Wut, er hatte so ziemlich das schlechteste Temperament in der Dschungel.
Mogli sah gelassen dem Schnauben und Stampfen des Bullen zu. Als er mit seiner Stimme den Lärm des Tieres und des spritzenden Schlammes übertönen konnte, rief er: »Welches Menschenvolk lagert hier bei den Morästen, Mysa? Diese Dschungel ist mir fremd.«
»Nordwärts gehe«, brüllte der vergrämte Bulle, denn Mogli hatte ihn ziemlich scharf gestochen. »Ein Spaß war das, wie er ganz für einen nackten Kuhhirten paßt. Am Rande des Moores liegt ein Dorf, geh' hin und erzähle ihnen die Geschichte.«
»Das Menschenvolk liebt keine Dschungelgeschichten; und ich glaube auch nicht, Mysa, daß ein Riß mehr oder weniger in deinem Fell Anlaß zu einer Ratsversammlung ist. Aber ich will gehen und mir das Dorf ansehen. Ruhig nun, Mysa, nicht in jeder Nacht kommt der Meister der Dschungel dich hüten.«
Er betrat den unsicheren Grund am Rande der Sümpfe, wohl wissend, daß Mysa im Moor nicht angreifen würde, und lachte im Laufen über den Zorn des Bullen.
»Nicht völlig schwand mir meine Kraft«, sagte er, »vielleicht ist das Gift nicht bis in die Knochen gedrungen. Sieh, dort, tief unten schimmert ein Stern.« Er betrachtete ihn durch die halbgeschlossenen Hände. »Beim Bullen, für den mich Baghira in das Rudel einkaufte, die rote Blume loht dort, die rote Blume, neben der ich lag, bevor – bevor ich zu dem ersten Sionipack kam. Zu Ende ist mein Lauf, nun ich sie wiedergesehen habe.«
Die Moräste endeten an einer breiten Ebene, und von dorther blinkte das Licht. Seit sehr langer Zeit hatte Mogli sich nicht mehr um das Tun und Treiben der Menschen gekümmert; in jener Nacht aber zog ihn der Schein der roten Blume wieder geheimnisvoll an.
»Ich will es mir ansehen, wie einst in den alten Tagen«, sagte er. »Ob sich das Menschenvolk wohl geändert hat?«
Längst lag die eigentliche Dschungel hinter ihm, und achtlos trottete er durch die taufeuchten Wiesen, bis er zu der Hütte kam, aus der das einsame Licht schimmerte. Hunde im Dorf schlugen an.
Geräuschlos setzte er sich nieder und stieß ein tiefes Wolfsknurren aus, um die Hunde zum Schweigen zu bringen. »Nun, was kommen muß, kommt. Aber was hast du, Mogli, bei den Lagern des Menschenvolkes zu schaffen?« Er rieb sich den Mund an der Stelle, wo vor Jahren ein Stein ihn getroffen hatte, als das andere Menschenvolk ihn ausstieß.
Die Tür der Hütte ging auf: eine Frau stand im Rahmen und blickte in die Dunkelheit. Drinnen weinte ein Kind, und die Frau rief über die Schulter zurück: »Schlafe! Ein Schakal war es nur, der die Hunde weckte. Bald kommt der Morgen.«
Mogli fing an, wie im Fieber zu zittern. Die Stimme kannte er wohl, aber um sicher zu sein, rief er leise: »Messua, o Messua!« und war erstaunt, daß ihm die Menschensprache zurückkam.
»Wer ruft da?« fragte die Frau mit einem Beben in ihrer Stimme.
»Hast du mich vergessen?« fragte Mogli. Die Kehle wurde ihm heiß, als er sprach.
»Wenn du es bist, nenne mir den Namen, den ich dir gab.« Halb schloß sie die Tür der Hütte und fuhr mit der Hand nach der Brust.
»Nathu! Oh-é – Nathu!« rief Mogli. – Wie ihr vielleicht noch wißt, war das der Name, den Messua ihm gegeben hatte, als er zum erstenmal bei den Menschen erschien.
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