Und der alte Mann, der dieses Alles erzählte, schüttelte wehmüthig den Kopf. »Vergessen! – Alles soll vergessen werden!« sprach er.
Darauf sprachen sie im Zimmer von anderen Dingen; aber das jüngste Kind drinnen, ein Knabe mit großen ernsten Augen, stieg auf einen Stuhl hinter den Fenstervorhangen, und blickte in den Hofraum hinaus, woselbst der Mond den alten Stein mit seinem hellen Scheine übergoß, den alten Stein, der ihm sonst leer und flach erschienen war, jetzt aber da lag, ein großes Blatt aus einem Chronikbuche. Alles, was der Knabe von dem alten Preben und dessen Gattin vernommen, wohnte hier dem Steine inne: er blickte diesen an, und blickte in den klaren lichten Mond, schaute in die reine Luft hinein, es war als leuchte das Antlitz Gottes über die Erde hinaus.
»Vergessen! – Alles soll vergessen werden!« tönte es drinnen im Zimmer, und in demselben Augenblicke küßte ein unsichtbarer Engel dem Knaben die Brust und die Stirn und flüsterte ihm leise zu: Bewahre Du das anvertraute Samenkorn, damit es gedeihe und reife, bewahre es wohl! Durch Dich, mein Kind, soll die verwischte Inschrift, der verwittert Grabstein in klaren, goldenen Zügen künftigen Geschlechtern vorgeführt werden! Das alte Ehepaar soll wieder Arm in Arm durch die alten Straßen wandeln und lächeln, mit frischen gesunden Wangen auf der hohen Bank unter der Linde sitzen, und Arm und Reich zunicken. Das Samenkorn dieser Stunde wird durch Jahre zu einer blühenden Dichtung gedeihen. Das Gute, das Schöne wird nicht vergessen, es lebt im Liede, es lebt in der Sage.
Die Schnecke und der Rosenstock.
Rings um den Garten zog sich eine Hecke von Haselbüschen; außerhalb derselben war Feld und Wiese mit Kühen und Schafen, aber mitten in dem Garten stand ein blühender Rosenstock; unter diesem saß eine Schnecke, die hatte Vieles in sich, sie hatte sich selbst.
»Warte nur bis meine Zeit kommt!« sagte sie, »ich werde mehr ausrichten, als Rosen ansetzen, Nüsse tragen oder Milch geben, wie Haselbusch, Kühe und Schafe!«
»Ich erwarte sehr viel von Ihr!« sagte der Rosenstock. »Darf ich fragen: wann wird es zum Vorscheine kommen?«
»Ich lasse mir Zeit!« sagte die Schnecke. »Sie haben nun solche Eile! Das spannt die Erwartungen nicht.«
Im darauf folgenden Jahre lag die Schnecke ungefähr auf derselben Stelle im Sonnenscheine unter dem Rosenstocke, der wieder Knospen trieb und Rosen entfaltete, immer frische, immer neue. Und die Schnecke kroch halb aus ihrem Hause heraus, streckte die Fühlhörner aus, und zog sie wieder ein.
»Alles sieht aus wie im vorigen Jahre! Gar kein Fortschritt; der Rosenstock bleibt bei den Rosen, weiter kommt er nicht!«
Der Sommer, der Herbst verstrich; der Rosenstock trug Rosen und Knospen bis der Schnee fiel, bis das Wetter rauh und naß wurde; dann beugte er sich zur Erde, die Schnecke kroch in die Erde.
Es begann ein neues Jahr; die Rosen kamen zum Vorscheine, die Schnecke auch.
»Sie sind jetzt ein alter Rosenstock!« sagte die Schnecke. »Sie müssen machen, daß Sie bald eingehen. Sie haben der Welt Alles gegeben, was Sie in sich gehabt haben, ob es von Belang war, das ist eine Frage, über die nachzudenken ich keine Zeit gehabt habe; so viel ist aber klar und deutlich, daß Sie nicht das Geringste für Ihre innere Entwicklung gethan haben, sonst wäre wohl etwas Anderes aus Ihnen hervorgegangen. Können Sie das verantworten? Sie werden jetzt bald ganz und gar nur Stock sein! Begreifen Sie, was ich sage?«
»Sie erschrecken mich!« sagte der Rosenstock. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
»Nein, Sie haben sich wohl überhaupt nie mit Denken abgegeben! Haben Sie sich jemals Rechenschaft gegeben, weshalb sie blühten, und wie der Hergang beim Blühen ist; warum so und nicht anders?«
»Nein!« sagte der Rosenstock. »Ich blühe in Freude, weil ich nicht anders konnte. Die Sonne schien und wärmte, die Luft erfrischte, ich trank den klaren Thau und den kräftigen Regen; ich athmete, ich lebte! Aus der Erde stieg eine Kraft in mich herauf, von Oben kam eine Kraft, ich vernahm ein immer neues, immer wachsendes Glück, und deshalb mußte ich immer blühen; das war mein Leben, ich konnte nicht anders!«
»Sie haben ein sehr gemächliches Leben geführt!« sagte die Schnecke.
»Gewiß! Alles wurde mir gegeben!« sagte der Rosenstock; »doch Ihnen wurde noch mehr gegeben! Sie sind eine dieser denkenden, tiefsinnigen Naturen, Einer dieser Hochbegabten, welche die Welt in Erstaunen setzen werden!«
»Das fällt mir nicht im Entferntesten ein!« sagte die Schnecke. »Die Welt geht mich nichts an! Was habe ich mit der Welt zu schaffen? Ich habe genug mit mir selbst und genug in mir selbst!«
»Aber müssen wir Alle hier auf Erden nicht unser bestes Theil den Andern geben, das darbringen, was wir eben vermögen? – Freilich, ich habe nur Rosen gegeben! – Doch Sie? Sie, die Sie so reich begabt sind, was schenkten Sie der Welt? Was werden Sie geben?«
»Was ich gab? Was ich gebe? – Ich spucke sie an! sie taugt nichts! sie geht mich nichts an. Setzen Sie Rosen an, meinetwegen, Sie können es nicht weiter bringen! Mag der Haselbusch Nüsse tragen, die Kühe und Schafe Milch geben, die haben jedes ihr Publikum, ich habe das meine in mir selbst! Ich gehe in mich selbst hinein, und dort bleibe ich. Die Welt geht mich nichts an!«
Damit begab die Schnecke sich in ihr Haus hinein, und verkittete dasselbe.
»Das ist recht traurig!« sagte der Rosenstock. »Ich kann mit dem besten Willen nicht hineinkriechen, ich muß immer heraus, immer Rosen ausschlagen. Die entblättern nun gar, verwehen im Winde! Doch ich sah wie eine Rose in das Gesangbuch der Hausfrau gelegt wurde, eine meiner Rosen bekam ein Plätzchen an dem Busen eines jungen, schönen Mädchens, und eine wurde geküßt von den Lippen eines Kindes in lebensfroher Freude. Das that mir so wohl, das war ein wahrer Segen. Das ist meine Erinnerung, mein Leben!«
Und der Rosenstock blühte in Unschuld, und die Schnecke lag und faulenzte in ihrem Hause. Die Welt ging sie nichts an.
Jahre verstrichen.
Die Schnecke war Erde in der Erde, der Rosenstock war Erde in der Erde; auch die Erinnerungsrose in dem Gesangbuche war verwelkt, – – aber im Garten blühten neue Rosenstöcke, im Garten wuchsen neue Schnecken; sie krochen in ihre Häuser hinein, spuckten aus, – die Welt ging sie nichts an.
Ob wir die Geschichte wieder von vorn zu lesen anfangen? – Sie wird doch nicht anders.
Der Schneemann.
»Eine so wunderbare Kälte ist es, daß mir der ganze Körper knackt!« sagte der Schneemann. »Der Wind kann Einem freilich Leben einbeißen. Und wie die Glühende dort glotzt!« – er meinte die Sonne, die eben im Untergehen begriffen war. »Mich soll sie nicht zum Blinzeln bringen, ich werde schon die Stückchen festhalten.«
Er hatte nämlich statt der Augen zwei große, dreieckige Stückchen von einem Dachziegel im Kopfe; sein Mund bestand aus einem alten Rechen, folglich hatte sein Mund auch Zähne.
Geboren war er unter dem Jubelrufe der Knaben, begrüßt vom Schellengeläute und Peitschengeknalle der Schlittenfahrten.
Die Sonne ging unter, der Vollmond ging auf, rund, groß, klar und schön in der blauen Luft.
»Da ist sie wieder von einer andern Seite!« sagte der Schneemann. Damit wollte er sagen: die Sonne zeigt sich wieder. »Ich habe ihr doch das Glotzen abgewöhnt! Mag sie jetzt dort hängen und leuchten, damit ich mich selbst sehen kann. Wüßte ich nur, wie man es macht, um von der Stelle zu kommen! – Ich möchte mich gar zu gern bewegen! – Wenn ich es könnte, würde ich jetzt dort unten auf dem Eise hingleiten, wie ich die Knaben gleiten sehe; allein ich verstehe mich nicht darauf, weiß nicht wie man läuft.«
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