„Yes. Na, sie haben es ganz gut hinbekommen. Meistens jedenfalls. In die Nähe von der Marktplatz, man hat Gassen in Erinnerung an das Mittelalter. Und die alten Holzhäuser, wovon manche sind aus das achtzehnte Jahrhundert. Manchmal findet man auch Spuren von die neue Renaissance an die Fassaden. Aber weißt du, so schön Vanha Rauma auch ist… Sobald man kommt aus Vanha Rauma hinaus, sie haben überall diese Klötze hingebaut. Horrible. Sie nehmen die kleinen Holzhäuser das Licht weg. Und sie sehen aus, was sie sind: Hässliche Unterkunftboxen in geschichtete Anordnung, verpackt in hässliche Klötze. Really horrible. Und sie werfen immer Schatten auf die kleinen Holzhäuser. Als hätten wir nicht schon genug mit das zu wenige Tageslicht zu tun. Oh, sie können mir nicht erzählen, es sei eben billig und es gäbe keine Alternativen und so. Das ist nonsense! Es gibt immer Alternativen. Wir Finnen haben immer viel von die Kreativität und Erfindungsreichtum und so weiter gehabt. Und so ist es auch heute noch. Yes, indeed. Ach ja: Über die history von Raumas Schifffahrt haben sie auch viel gemacht. Oh, es gibt so viel zu sehen und zu wissen hier. Schade, dass noch kein Sommer ist. Ich könnte dir viel mehr zeigen. Aber der Winter ist auch schön. Ach, ich muss dir so viel über mein Land berichten.“
Valtteri bekommt schwärmerische Augen.
„Du kannst mir gerne davon erzählen, Valtteri. Aber nicht mehr heute Nacht. Du brauchst deinen Schlaf.“
„Yes, I have to sleep. Fucking job!“
„Ich bin eine ganze Woche da. Wir können morgen in Ruhe reden.“
Valtteri schaut mich traurig an. Er wird leise.
„Du kannst in Finnland bleiben, so lange du willst, Lenja. Not just for a week. More than a week. Viel mehr. Ich habe so ein Freude an die creative work und unterwegs zu sein mit dir. Ich weiß nicht, wann ich mal wieder in Deutschland bin.“
„Ich denke darüber nach. Okay?“
„Okay. Ach! Bevor ich es wieder vergesse: Was ist denn nun mit die Adresse von deine neue Wohnung? Wir haben während dein Umzug zwar gemailt und SMS geschickt und du hattest mir die neue Adresse auch gesagt, aber ich hatte versäumt, mir das aufzuschreiben.“
„Das ist doch kein Problem, Valtteri. Ich kann sie dir gerne noch einmal geben.“
Prompt eilt Valtteri zum Regal, reißt ein Stück eines hervorlugenden Malblattes herunter, greift sich eine der Ölkreiden und spitzt seine Lauscher.
„Gut, also… Meinen Namen kennst du ja.“
„Ja, steht bereits auf das Blatt. Straße?“
„Am alten Acker.“
„Hausnummer?“
„Eins A. Großes A.“
„Postleitzahl?“
„Null. Acht. Eins. Fünf.“
„Ort?“
„Ödenpofen.“
„Ist notiert. Hmmm. Sagt mir gar nichts. Wie heißt denn die nächste größere Ortschaft?“
„Strunzdorf.“
„Aha? Gut. Near… Strunz… dorf. Okay, habe ich. Und natürlich in Germany. Deutschland. Good. Deine Telefonnummer und E-Mail-Adresse habe ich ja. Allright. Dann klebe ich mir das jetzt direkt an meinen Kühlschrank. So kann ich es nicht verlegen“, erklärt er freudestrahlend, während er ein Stück Teppichklebeband von einer Rolle abschneidet.
Ich sehe ihn in die Küche entschwinden, höre ein mittellautes „Wump“ und weiß, dass der Zettel mit meiner Adresse in Öl nun an seiner Kühlschranktür prangt. Kurz darauf erscheint er wieder im Türrahmen.
„Ab und zu ist mein Kopf voll von zu viele Sachen. Danke, dass du mir geduldig bist und es noch einmal genannt hast.“
„Keine Ursache, Valtteri. Aber jetzt gehe ins Bett. Du musst schlafen. Du musst morgen zur Arbeit.“
„Jo. Jo, jo, joooo. That's true. Gute Nacht. Schlafe gut, Lenja.“
Valtteri nickt mir zu. Danach verschwindet er in sein Schlafzimmer. Das Licht erlischt, die Wohnung ist dunkel. Ich tippe eine kurze Bin-gut-angekommen-SMS in mein Handy und drücke auf Senden. Dann schalte ich mein Handy aus. Ich möchte jetzt keine weiteren SMS oder Anrufe. Ich möchte fühlen, spüren, begreifen, erleben, sein. Meine erste Nacht in diesem fremden Land. Ich bin glücklich, hier zu sein. Sehr glücklich. Ich fühle mich wohl. Finnland.
Am frühen Morgen, kurz nach fünf, höre ich Geräusche. Valtteri kommt aus dem Badezimmer. Er eilt in die Küche, während ich unter die Dusche husche. Nach wenigen Minuten bin ich tageslichttauglich.
„Willst du bis Kauppatori mitkommen, Lenja?“, fragt er mich, während er sich sitzend seine Schuhe zuschnürt. „Die machen gleich auf. Bis wir dort sind, ist der frische Kaffee warm. Du kannst dort einen Snack nehmen, wenn du willst. Frühstück. Oder möchtest du lieber in Ruhe hier der Tag beginnen?“
„Ich komme gerne bis zum Kauppatori mit, Valtteri“, antworte ich ihm und greife nach meinem Rucksack. „Ich bin ja noch ein paar Tage hier. Da habe ich noch genug Möglichkeiten, den Tag in Ruhe zu beginnen.“
„So then du brauchst diese hier“, sagt er und reicht mir im Flur ein Paar Spikes an.
„Ja, ich verstehe. Kiitos.“
Die Riemen der Spikes bestehen aus einem Gummi-Synthetik-Mix. Zum Glück sind sie größenverstellbar. Die Spikes selbst bestehen aus massivem Metall und sind jeweils einzeln eingeschraubt. Sie decken Ferse, Sohle und Zehenspitze ab. Auf diesen Spikes zu laufen fühlt sich an, als würde circa ein Zentimeter bis zum Bodenkontakt fehlen. Nichtsdestoweniger habe ich einen sicheren Auftritt und ein gutes Gespür für mein Gleichgewicht. Es folgen Fingerhandschuhe aus warmen Textilien. Ebenso Jacke, Schal und eine Mütze mit Ohrenklappen. Wir schauen wie zwei Michelin-Männchen aus. Wenig später stehen wir im Freien, das Außenthermometer zeigt minus 29 Grad Celsius.
Valtteri löst die Folienabdeckung seines Autos. Mal vorsichtig, mal ruckartig. Er weiß genau, was er tut.
„Kann ich dir helfen?“
„No, not now“, antwortet er mir. „Gleich.“
„Ok… Puh, – nicht einmal der Hauch einer Morgendämmerung. Ganz schön dunkel.“
„Die meiste Zeit des Tages ist es dunkel. Tiefe Dunkelheit. Manchmal mehr, manchmal weniger. Round about vier bis sechs Monate Dunkelheit sind hier in Finnland keine Seltenheit“, sagt Valtteri. „Je nach Region.“
Vier bis sechs Monate Lichtentzug also.
Vier bis sechs Monate Lichtentzug für Flora und Fauna. Vier bis sechs Monate, in welchen der Idealfall ein gelegentliches Dämmerlicht beschreibt. Keine Seltenheit. Aha.
Ich begreife, was diese Tatsache bedeutet.
Berichte, Tourismusinformationen, Statistiken oder Dokumentationen zu lesen, anzusehen oder zu hören ist eine Sache. Mittendrin zu stehen und es mit allen Sinnen zu erfahren eine gänzlich andere.
Mein Blick schweift gen Himmel. Sternenklar. Wunderschön. Unbeschreiblich. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Wortlos genieße ich.
Ein stotterndes Motorengeräusch, vermutlich aus einer der benachbarten Straßen, reißt mich aus meinen Gedanken.
„Ah, da hat jemand Startschwierigkeiten. Der Wagen springt nicht an“, sagt Valtteri, während er wieder einmal meinen Blick auffängt. „Das kennen die Menschen, die hier leben. Meistens wissen sie sich zu helfen.“
„Andernfalls helfen sie sich gegenseitig?“
„Yes, hilfsbereit sind wir Finnen“, bestätigt Valtteri, während er die Verriegelung seines Kofferraumes enteist.
„Ja, hilfsbereit und freundlich. Das habe ich schon auf meiner Reise hierhin gemerkt. Und auch bei meiner Ankunft.“
Der Kofferraum springt auf.
Jetzt verstehe ich, weswegen Valtteri gestern Nacht meinen Koffer auf den Rücksitz gelegt hat. Im Kofferraum ist schlicht und ergreifend kein Platz mehr. Drei Kanister einer seltsam gefärbten Tauflüssigkeit, – einer davon ist bereits halb leer. Ein sehr stabil aussehendes Abschleppseil, vermutlich mehrere Meter lang. Wie ein Lasso aufgerollt. Eine Schaufel. Massiv, kein Plastik. Ein Warnschild. Ein Erste-Hilfe-Kasten. Ein offener Korb. Darin enthalten: Ein Gaskocher, eine Öllampe, Streichhölzer, Lampenöl, zwei Gaskartuschen, zwei Wasserflaschen, Brühwürfel, Pulverkaffee, eingeschweißter getrockneter Speck, ein finnisches Anglermesser und eine Thermoskanne mit Trinkbecher. Des Weiteren befindet sich eine sehr warm aussehende Wolldecke im Kofferraum. Ebenso ein Thermo-Overall. Und eine neongelbe Jacke.
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