In einem der Sechsgeschosser am Hubertusdamm hatten sie mithilfe des Leiters der Druckerei, Martin Vogelsang, eine Zweieinhalbzimmerwohnung gefunden. Alem Manuel Diogonis und Nuguse Berhane und auch die Freundin Berhanes, Temshe Mehari, richteten sich dort ein. An den Wänden erinnerten afrikanische Masken und Fotos, die Nuguse Berhane, dessen Leidenschaft es war zu fotografieren, in kleinem Rahmen an die Heimat. Für das Wohnzimmer, das sie gemeinsam nutzen, hatte Nuguse Berhane eines seiner Farbbilder, das die Trockensavanne mit trockenem Grasland und einigen Trockenwäldern, mit Schirmakazien und Affenbrotbäumen darstellte, zu einem großen Plakat drucken lassen.
Kaum waren sie unter sich, sprachen sie Makhuwa, eine der vielen Bantusprachen, die im Norden Mosambiks vorherrschte. Mit Vogelsang unterhielten sie sich in der Amtssprache ihres Landes, portugiesisch. Nur während der Arbeit sprachen sie mit ihren Kollegen gebrochen deutsch. Obwohl sie hin und wieder sehnsüchtig an ihre Heimat dachten, lebten sie sich gut ein. Selbst die Vergütung ihrer Arbeit als angelernte Helfer war, verglichen sie es mit den Möglichkeiten in der Heimat, geradezu fürstlich.
Während Nuguse Berhane und dessen Freundin Temshe Mehari ausschließlich hergekommen waren, um Geld für ihre Familien zu erarbeiten, um die deutsche Sprache und einen Beruf zu erlernen, verfolgte Alem Manuel Diogonis einen anderen Plan. Zwar schickte er seiner Mutter jeden Monat hundert Euro. Er hatte nie vergessen, dass sein Vater eines der Opfer war, die in der DDR von Neonazis ermordet wurden. Das war für ihn der Grund, in Deutschland arbeiten zu wollen. Er hatte vor, sich an dem Mann zu rächen, der der Anführer der vier Männer war, die den Mord an seinem Vater begangen hatten. Mord war Mord, doch nicht jedem Vertragsarbeiter, der im Land der Diktatur des Proletariats umgebracht wurde, hatte man die Füße zusammengebunden und ihn solange hinter dem Zug hergezogen, bis die Einzelteile über 10 Kilometer verteilt waren. Der Kopf Antonio Manuel Diogonis‘ wurde erst Tage nach dem Torso, bei dem Beine fehlten, gefunden.
Opfer gab es auf beiden Seiten. In Mosambik waren es sieben landwirtschaftliche Entwicklungshelfer aus der DDR gewesen, die im Bürgerkrieg ihr Leben lassen mussten. Offiziell schob die Regierung unter Präsident Machel Samora und der Frente de Libertação de – FRELIMO, welche die Staatsmacht verkörperten, die Tat der Resistência Nacional Moçambicana – RENAMO zu. Die Opfer wurden in der DDR obduziert. Die Munition, die für die Tat benutzt wurde, konnte eindeutig der AK 47 Kalaschnikow zugeordnet werden. Dieses Gewehr wurde nahezu ausschließlich von der Frelimo verwendet, doch gab es Beutewaffen, die bei Anschlägen auf die Frelimo allzu gern benutzt wurden. Bis heute ist strittig, welche der Parteien die Entwicklungshelfer aus der DDR ermordete. Das war das Ende der Entwicklungshilfe durch Personal aus Ost-Berlin in Unango. Die verantwortlichen Politiker in der DDR beendeten unmittelbar nach Bekanntwerden des Anschlages die Zusammenarbeit im Norden Mosambiks. Der Bürgerkrieg kostete durch Kämpfe und Hungerkatastrophen bis zu 900.000 Menschenleben. Über fünf Millionen Zivilisten wurden vertrieben und zahlreiche Menschen durch Landminen verstümmelt, die auch heute noch Opfer unter der Zivilbevölkerung fordern. Das war in den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts.
Jetzt, dreißig Jahre später, sah die Sache ganz anders aus. Die alt gewordenen Vertragsarbeiter, die nach dem Zusammenbruch der DDR in ihre Heimat Mosambik zurückkehrten, trauerten der Zeit nach, in der sie in der DDR tätig sein durften. Madgermanes werden in Mosambik die rund 15.000 Mosambikaner genannt, die als Vertragsarbeiter aufgrund eines Staatsvertrages zwischen der DDR und Mosambik seit 1979 in der DDR arbeiteten. Sie wurden nach der Wende in der DDR 1989 durch die Bundesrepublik nach Mosambik ausgewiesen. Nur sehr wenige konnten in Deutschland bleiben.
Alem Manuel Diogonis hatte über das Internet alles recherchiert, was über die Todesfälle an Vertragsarbeitern aus Mosambik in der DDR aufzutreiben war. So gelangte er schließlich an ein Bild, das eine Gruppe von jungen Nazis in der DDR zeigte. Nun war es bewiesen: In der DDR gab es Neonazis und sie lynchten Gastarbeiter. Es glich an ein Wunder, doch Diogonis glaubte, auf dem in der Mitte des Bildes stehenden Mann Ulrich Werfel zu erkennen, der, den anderen gleich, seinen Arm zum Hitlergruß ausgestreckt hatte. Fortan suchte er dessen Freundschaft, was nicht schwer war. So unglaublich das Diogonis erschien, Werfel stieg auf diese Versuche ein. Er zeigte ihm sogar, wie der Gabelstapler zu bedienen war, wenn er selbst nicht da sein würde. Freilich gehörte eine staatlich verordnete Prüfung dazu, eine solche Maschine bedienen zu dürfen. Werfel fand offene Ohren beim Leiter Druck vor, Diogonis für eine solche Prüfung vorzubereiten. Um die Lebensumstände kennenzulernen, nahm Diogonis eine Einladung zum Essen in Werfels Wohnung an.
*
Die Wohnung Werfels lag in der Peter-Altmann-Straße in einem älteren Einfamilienhaus, nahe der Bushaltestelle Hermann-Struve-Straße. Neugierige Blicke folgten Diogonis, als er aus dem Bus stieg. Er ging die kurze Strecke zur Adresse zurück, die ihm Ulrich Werfel genannt hatte. Den kleinen Blumenstrauß in der Hand, betätigte Alem Manuel Diogonis die Klingel. Die Frau, die die Tür öffnete, wird Mitte sechzig sein, dachte Diogonis. Er lächelte sie an.
Die Frau lächelte zurück.
»Sie sind der Arbeitskollege von meinem Mann. Herzlich willkommen. Uli, der Besuch ist da«, rief sie in die Wohnung.
Ulrich Werfel kam aus dem Wohnzimmer.
»Schön, dass du da bist, Alem«, sagte er. »Komm bitte herein.« Er gab Diogonis die Hand.
»Darf ich Ihnen die Blumen abnehmen?«, fragte die Frau.
»Gerne.«
Die beiden Männer gingen voraus, und Werfels Frau nahm den Umweg über die Küche.
»Du weißt schon, dass Potsdam bis 1989 zur DDR gehörte«, begann Ulrich Werfel die Unterhaltung.
»Ja.«
»Wir hatten damals auch Vertragsarbeiter, die bei uns eine Ausbildung genossen und über Jahre eine feste Verdienstmöglichkeit hatten. Es waren alles Männer und Frauen aus den sozialistischen Ländern, aus Vietnam zum Beispiel, aus Kuba und eben auch aus Mosambik.«
Werfels Frau kam herein. »Mit dem Essen dauert es noch ein Weilchen«, sagte sie. »Möchten Sie vielleicht etwas trinken?«
»Ein Wasser, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Diogonis.
Die Frau ging in die Küche zurück.
»Seit 1979 bis 1989 waren mehrere Tausend Mosambikaner als Vertragsarbeiter aufgrund eines Staatsvertrages zwischen der DDR und Mosambik in der DDR«, sagte Werfel. »Wir haben gut mit ihnen zusammengearbeitet.« Er stand auf und holte aus dem Wohnzimmerschrank ein dickes Fotoalbum. »Es gibt hier eine Menge Fotos, die beweisen, wie herzlich unsere Beziehungen waren.«
Werfels Frau brachte das Wasser für den Gast.
»Zeigst du Herrn Diogonis die alten Bilder?«
»Es ist ein Teil unseres Lebens«, sagte Werfel. »Zum Anfang der 1980er Jahre war die Volksrepublik Mosambik der stärkste Empfänger des entwicklungspolitischen Engagements der DDR. Hör mal, was in dem Artikel im Neuen Deutschland steht.« Werfel las laut: »Die als wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit bezeichneten Unterstützungsmaßnahmen auf der Basis des gegenseitigen Nutzens beinhalteten unter anderem die Entsendung von Experten und qualifizierten Fachkräften.«
Die Idee war ursprünglich, in der DDR Arbeitskräfte auszubilden, die in den in Mosambik neu zu errichteten Betrieben, zum Beispiel in dem geplanten Textilkombinat von Mocuba, arbeiten sollten. Mit dem Versinken des Landes im Bürgerkrieg und aus falschen Einschätzungen über die Realisierbarkeit heraus wurden diese Großprojekte gegenstandslos. Dadurch war klar, dass es – wie sich nach 1989 auch bestätigte - für die Mosambikaner kaum Perspektiven nach Rückkehr ins eigene Land gab. Andererseits jene Mosambikaner, die während der Anfangsjahre wirklich sehr gründliche Berufsausbildungen erfuhren, zum Ende der DDR hin immer mehr als reine Hilfsarbeiter eingesetzt und erhielten nur noch eine rudimentäre Ausbildung.
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