„Du bist eine Plage!“, ließ Ysell Läufer wissen und da er spürte, dass sie diesmal wirklich böse war, hielt er sich für fast eine halbe Handmaß fern von ihr.
Von Anfang an war es klar gewesen, dass Ysell aus dem nächsten Wurf des Zwingers wieder einen Rüden erhalten würde, und als Yana, eine eher zierliche Hündin, denn sie war nur knapp hüfthoch, einen Wurf gesunder Welpen zur Welt brachte, erhielt Ysell Reißer für ihr Rudel zugeteilt. Läufer hielt nicht allzu viel von dem neuen Mitbewohner des Zwingers hinter Ysells Kammer. Er neigte ein wenig zur Eifersucht und mehr als einmal zeigte er Reißer die Zähne, so daß der Kleine verängstigt zu Ysell gelaufen kam und sich hinter ihr verbarg. Ysell verstand Läufer ja, aber sie konnte sein Verhalten natürlich keinesfalls dulden. - Nur gut, dass sie schon sehr viel von seinen Gefühlen spüren konnte, bevor es wieder zu einem Ausbruch kam. Ysell musste sich jetzt möglichst gerecht zwischen den beiden aufteilen, und es war nicht leicht für sie, sowohl den nörglerisch-aggressiven Läufer als auch den ängstlich Liebe heischenden Reißer angemessen zu behandeln. Ysell lernte es, zu loben ohne zu bevorzugen und zu tadeln ohne ungerecht zu werden.
Auch sonst ging mit Ysell einiges vor. Aus Zweibein-Welpe wurde eine junge Frau. Mehr noch als die diffuse Meinung der Hunde sagten ihr die Blicke der Aufspürer und Trossmänner, dass sie in Ysell nicht mehr das Kind sahen, als das sie hergekommen war. Läufer brachte es eines Tages auf den Punkt, als sie mit ihm über den Hof ging. Ysell fing plötzlich einen sehr intensiven Gedanken an Paarung auf. Erstaunt schaute sie auf Läufer herab - er war doch noch viel zu jung. Dann begriff Ysell plötzlich, dass es nicht eigentlich Läufers Gedanken waren, die sie empfing, sondern dass er den Impuls selbst empfangen und nur an sie weitergegeben hatte.
Ysell schaute sich um. Trossmann Pekan stand beim Brunnen, schielte unauffällig zu ihr herüber und vergaß dabei glatt, die Kurbel zu drehen, an der der Eimer hing. - Ausgerechnet Pekan, der mit seinen blöden Witzen allen auf die Nerven ging, ausgerechnet er machte sich Hoffnungen, mit ihr anbandeln zu können. Schnell wechselte Ysell die Richtung und ging direkt auf den verblüfften Pekan zu, der ihr verlegen grinsend entgegenstarrte. Dicht vor ihm blieb sie stehen und machte ihm ein Zeichen, dass sie ihm etwas ins Ohr flüstern wolle. Überrascht beugte Pekan sich ein Stückchen herab und wäre vor Schreck fast hintenüber geschlagen, als Ysell ihm ein „Nein!“, ins Ohr brüllte.
Später am Tag bekam Ysell dann ein schlechtes Gewissen, denn es ist ja eigentlich nichts Schlimmes, jemanden zu begehren. Pekan hatte es ja nicht böse gemeint. Zu ihm gehen und sich entschuldigen mochte Ysell aber auch nicht. Allerdings schien er ihr die kleine Gemeinheit auch nicht übel zu nehmen, denn am Abend, beim gemeinsamen Essen, saß er bei Diré, einer jungen Trossfrau, am Tisch und machte wie immer seine blöden Späße, ohne Ysell besonders zu beachten.
Es war in dieser Zeit nicht leicht für Ysell, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Plötzliche Heiterkeit wechselte sich mit ebenso unvermittelt auftretender Schwermut ab und zeitweise kehrte auch ihr grundlos aufwallender Groll gegen alles und jeden zurück. Sie versuchte aber, sich zu beherrschen und sich weder vor den Menschen, noch vor ihren Hunden eine Blöße zu geben. Wenn es allzu schlimm wurde, dann schlich sie sich nachts vom Zwingergelände und tobte ihre unbenennbare Wut in Gewaltmärschen durch die Sandfelder aus, auf denen tagsüber mit den Hunden geübt wurde.
Bei all ihren Problemen ließ sich Ysell aber nie dazu hinreißen, die Hunde unter ihren Launen leiden zu lassen. Im Gegenteil: - Oft sprach sie halbe Nächte lang mit den Tieren und es tat ihr wohl, die warmen, freundlichen Stimmen der Hunde in ihrem Geist zu spüren. Besonders Läufer hatte immer ein „gutes Wort“ für sie, denn die beiden standen jetzt in ständiger Verbindung miteinander.
Ansonsten hatte Ysell aber auch kaum Gelegenheit, sich allzu sehr auf sich selbst zu konzentrieren, denn schon bald kam Dax, Sohn von Sirani und Oros, zu ihrem Rudel, und natürlich fingen die Eifersüchteleien sofort wieder an.
Ysell merkte kaum, wie die Zeit verging. Sie versorgte ihre Hunde und versuchte, aus den ungezügelten Jungtieren so etwas wie ein aufeinander abgestimmtes Rudel zu formen. Läufer war, nach ihr natürlich, der Anführer des Rudels und er hatte mittlerweile auch genug Verstand, Ysell in ihren Bemühungen zu unterstützen. Dax erwies sich als sehr willensstarker und ehrgeiziger Hund und setzte sich, obwohl er der Jüngste war, sehr schnell gegen Reißer durch. Läufers Vorrangstellung wurde von Dax allerdings nur ein einziges Mal in Frage gestellt, und als Ysells Strafjahr, über das übrigens nie wieder gesprochen wurde, vorbei war, war aus Läufer ein prachtvoller Trosshund und hervorragender Anführer geworden, der die Kommandos seiner Aufspürerin bis in die kleinsten Einzelheiten hinein verstand. Dax und Reißer hatten noch einiges zu lernen, aber das würde sich finden, denn jetzt sollten die Tiere beginnen, zusammen zu arbeiten. Bald schon würden Ysell, Läufer, Dax und Reißer mit den anderen zusammen vor die Stadt in die Sandfelder ziehen.
SABÉ
Ysell hatte ihr altes Leben abgestreift wie verschmutzte Kleidung. Die Familie, die Straßen der Stadt, die Streiche, das alles lag weit hinter ihr und war in der Erinnerung farblos und flach geworden. Selbst die kurzen Gespräche mit Sabé, direkt nach ihrer Verurteilung, waren nichts sagend und allgemein geblieben. Beide hatten gewusst, dass sie von nun an getrennte Wege gehen würden und zumindest Ysell war es recht gewesen. Sabé hatte nicht einsehen können, dass sie bereit war, ihre Strafe zu akzeptieren, aber spätestens, seit sie dem Mädchen das Bein gebrochen hatte, war ihr selbst klar geworden, dass es mit ihr so nicht weitergehen konnte. Alles, was mit ihrer Vergangenheit zu tun hatte, war gefährlich . Es hätte sie wieder aus der Bahn werfen können, und so hatte sie sich für eine Zeit lang ganz auf das Zwingergelände zurückgezogen. Die abrupte Trennung von allem was ihr bekannt gewesen war und vor allem der Umgang mit Bogan und Läufer hatten ihr Leben vollständig verändert, so daß man mit Recht sagen konnte, der Zwinger habe einen neuen Menschen aus ihr gemacht.
Zuerst hatte Läufer sie gebraucht, und Nekoi hatte ihr Lesen und Rechnen beigebracht. Dann hatte Ysell nach und nach erkannt, dass Bogan sich auf sie verließ, sie hatte die Anerkennung der gesamten Trossmannschaft gewonnen und schließlich waren Reißer und Dax dazu gekommen, so daß sie jetzt ein Rudel Junghunde zu betreuen hatte. Alle mussten versorgt und ausreichend beachtet werden und zu allem, was sie tat, musste Ysell sich Gedanken machen. Am Abend war sie dann immer so müde, dass sie keinen unnötigen Schritt mehr tun wollte. Selbst in der Nacht hatte sie keine Ruhe vor ihren Junghunden, denn der geistige Kontakt bewirkte, dass sie all ihre wirren Hundeträume miterleben musste.
So verging mehr als ein Jahr und Ysell war in dieser Zeit nicht öfter als fünfmal in der Stadt gewesen, meistens, um in Bogans Auftrag etwas für den Zwinger zu besorgen. Der Zwinger war ihr Zuhause geworden - ihre Familie, ihre Welt. Ysell hatte Sabé vor über einem Jahr zum letzten Mal gesehen - und sie hatte ihn fast vollständig vergessen.
„Ysell?“ Auch Ysell hatte Sabé kaum wiedererkannt. Nachdenklich hatte sie gerade vor einer Marktbude mit Schüsseln gestanden, denn im Zwinger wurden ein paar neue Näpfe gebraucht, da hatte ein Schatten sich neben sie geschoben und sie hatte eine Berührung an ihrer Weste gespürt. Gereizt hatte sie sich umgeschaut, denn sie fühlte sich gestört, da hatte sie im Gesicht des Jungen neben ihr etwas Bekanntes entdeckt. „Sabé?“ Ysell konnte es kaum glauben, dass der hochaufgeschossene Junge neben ihr ihr ehemaliger Spießgeselle sein sollte. Sein Körper hatte sich gestreckt und er wirkte fast schon wie ein junger Mann. Gerade noch konnte sie sich ein „Du bist aber gewachsen!“ verkneifen.
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