Ysell eilte zurück zu dem Händler. Er musste ihr helfen! Sie streckte ihre Hand nach der seinen aus. Seine Hand war ganz warm und feucht. Ysell zuckte zurück. Sie hörte das Rascheln von Stroh. Das Gesicht des Händlers verschwamm vor ihren Augen. Es wurde dunkel. Stroh raschelte. Etwas Warmes berührte ihre Hand.
„Läufer!“ Ysell schnellte zu sitzender Stellung hoch und Läufer zuckte vor Schreck zusammen. Es dauerte einen Moment, bis Ysell erkannte, dass das Warme, das ihre Hand im Traum berührt hatte, Läufers Zunge gewesen war. Er musste schon eine ganze Zeit neben ihrem Bett gesessen haben, denn ihre Finger waren ganz feucht.
Ysell stellte die Füße auf den Boden und legte sich die Decke um die Schultern. Läufer drängte sich sofort an ihre nackten Beine und schnüffelte sacht an ihrer Wade. Dann ließ er sich mit einem wohligen Aufstöhnen direkt auf ihre Füße fallen und machte es sich dort bequem.
Ein hellerer Fleck in der Dunkelheit zog Ysells Blick an. Läufer musste die Klappe, die zum Zwinger führte, leise aufgedrückt haben. Sie hatte sie ja auch mit Absicht nur angelehnt, damit er sie besuchen könnte, wenn er sich einsam fühlte.
Ysell war inzwischen ganz wach und versuchte, über ihren Traum nachzudenken; aber die Bilder waren zu schnell verblasst und je mehr sie sich anstrengte, um so weniger konnte sie sich erinnern. Das Einzige, was zurückgeblieben war, war das Gefühl von Verlassenheit und Verzweiflung.
Lange saß Ysell still da und versuchte, dieses Gefühl abzuschütteln. Sie zog sich die Decke enger um die Schultern und beugte sich zu Läufer hinab. Sanft streichelte sie sein seidiges Fell. Das Gefühl der Verzweiflung wich sanfter Traurigkeit, gemischt mit einem unbestimmten Wohlbehagen.
Da begriff Ysell plötzlich, was geschehen war. Blitzartig zog sie ihre Füße unter Läufer hervor, warf ihre Decke auf den Boden, kniete sich darauf und redete wie wild auf das verdutzte Tier ein. „Läufer - ist es das, was du fühlst? - Du armes Hundchen bist ganz traurig, nicht? - Du hast mir diesen Traum gemacht, stimmt’s? - Weil du traurig bist, muss ich auch traurig sein, ja? - Weil du mit mir gesprochen hast! Natürlich! Weil du mit mir gesprochen hast!“ Bei den letzten Worten hatte sie Läufer dicht an sich herangezogen und drückte ihn nun fest an sich. Läufer strampelte und Ysell ließ ihn sofort los, denn sie hatte ein vages Gefühl von Unbehagen gespürt - so etwas wie Frei-sein-Wollen, ein Signal, das ganz ohne Zweifel von Läufer gekommen war.
„Jaa!“, schrie Ysell begeistert, sprang auf und tanzte in der Kammer herum. „Er kann sprechen! - Läufer kann mit mir sprechen!“
„Was ist los?“, kam eine dunkle Stimme aus der Kammer nebenan, in der Esra, ein anderer Aufspürer wohnte.
„Mein Hund - Läufer - er spricht! - Wir können miteinander sprechen! - Ich - ich kann mit meinem Hund sprechen!“
„Gratuliere!“, sagte Esra und Ysell hörte durch die dünne Bretterwand, wie er gähnte: „Das geht aber auch leise.“
Esras Desinteresse und die Zurechtweisung glitten an Ysell ab, wie Wasser von gewachstem Tuch. Trotzdem flüsterte sie jetzt lieber mit Läufer. „Du darfst leider nicht bei mir im Bett schlafen“, erklärte Ysell dem erstaunten Hundchen, denn das hatte Bogan rein vorsorglich streng verboten.
„Komm“, sagte Ysell also. „Erzähl mir was!“ Sie warf schnell ein paar Hand voll Stroh aus ihrem Bett auf den Boden und breitete ihre Decke darauf aus. Dann legte sie sich darauf, nahm Läufer in den Arm, genoss das Wohlbehagen, das er ausstrahlte, und versuchte, ihm Ruhe und Sicherheit zu geben. Es funktionierte. - So schliefen sie bis zum frühen Morgen und beider Träume waren sanft und heiter.
Nur einmal noch ging Ysell in die Wohnung ihrer Eltern. Bogan hatte ihr zur Zeit der Hochsonne für die Dauer von zwei Handmaß freigegeben und sie war bester Laune in die Stadt gegangen, um ihre Mutter zu besuchen. Ysell hatte so viel erlebt in letzter Zeit - sie musste ihren Eltern einfach davon erzählen.
Ysells Mutter war nicht allein.
Ysell war fröhlich die Treppe hinaufgepoltert und hatte sich schon darauf gefreut, ihrer Mutter von all ihren Erlebnissen zu berichten. Jetzt stand sie stumm in der Tür des Zimmers, das die Familie bewohnte. Mit einem Blick hatte sie die Situation erkannt.
Erhitzt und mit hochroten Gesichtern standen Ysells Mutter und ein Soldat der Stadtwache mitten im Zimmer und versuchten hastig, ihre Kleidung zu ordnen. Wein stand auf dem Tisch und um den Fuß des Kruges hatte sich eine rote Pfütze gebildet, in der ein paar kleine Münzen lagen. Der Soldat war schon alt; er grinste Ysell verlegen an, und sie sah, dass er kaum noch Zähne im Mund hatte. Ysell hätte das zerwühlte Bett gar nicht erst sehen müssen, um zu wissen, was hier geschah - bei was sie gestört hatte.
Wortlos wandte Ysell sich ab und schloss die Tür hinter sich. „Sag aber Papa nichts!“, hörte sie noch, als sie mit leerem Gesichtsausdruck langsam die Treppe hinabging. Niemand folgte ihr, und das war auch besser so - denn Ysells Hände waren zu Fäusten geballt.
Ysell ging zurück zum Zwinger. Das süße Gebäck, das sie auf dem Hinweg gekauft hatte, drückte sie im Vorbeigehen einem Kind in die Hand, das ihr verwundert nachschaute.
Bogan sagte nichts, als Ysell viel zu früh zurückkam. Sie hatte schon befürchtet, er würde sie in ihrem Zustand nicht zu den Hunden lassen, aber er ließ sie gewähren.
Die Trosshunde auf dem Hof merkten, dass mit Ysell etwas nicht stimmte. Sie schauten ihr mit schief gelegtem Kopf entgegen, kamen angelaufen und stupsten forschend an ihr herum. War es Mitleid, was die Tiere empfanden? Spürten sie Ysells Trauer um ein verlorenes Glück, das sie nie hatte kennen lernen dürfen? Ysell ging zu Läufer, hockte sich in eine Ecke, nahm den Welpen in den Arm; er fiepte leise und leckte tröstend ihre Hand, während ihre Tränen sein Fell benetzten.
In gleichem Maß, in dem Ysells Beziehung zu Läufer sich festigte, nahm der Welpe an Kraft und Gewandtheit zu. Sein Körper straffte sich, seine Pfoten wirkten nicht mehr ganz so dick und tapsig; und seine Bewegungen wurden zusehends kraftvoller und geschmeidiger. Das war die Zeit, in der Läufer eigentlich immer Hunger hatte. Er wuchs so schnell, dass man fast dabei zusehen konnte. - Und er wurde immer frecher.
Dass Trosshunde keine Kuscheltiere sind, lernte Ysell an einem sonnigen Morgen, als sie mit Läufer über den Hof ging, um sich ihr Frühstück abzuholen. Für einen Moment war sie abgelenkt, weil eine Trossfrau sie am Brunnen um Hilfe bat. Sie sah noch, wie Läufer zu dem Baum hinüberlief, unter dem Athos, der ranghöchste aller Trosshunde, lag und vor sich hin döste.
Athos´ zorniges Bellen riss Ysell herum und entsetzt sah sie, wie der riesige Rüde mit zurückgelegten Ohren und gefletschten Zähnen auf Läufer niederfuhr. Der Kleine wich erschrocken zurück, aber sofort setzte Athos nach und war mit weit aufgerissenem Rachen wieder über ihm.
„Nein!“, schrie Ysell, sprang mit einem Riesensatz vor den tobenden Trosshund hin und riss Läufer aus der Gefahrenzone. Athos blieb stehen und schaute verständnislos, als Ysell sich rasch mit Läufer auf dem Arm zurückzog und ihm mit der Faust drohte.
Wenig später stand die schluchzende Ysell, Läufer fest neben sich haltend vor Bogan, der sich die Sache mit ernstem Gesicht anhörte.
„Er hasst Läufer! - Er will ihn töten! - Die anderen Welpen sind vielleicht auch in Gefahr! - Er ist verrückt geworden!“
Bogan kam mit auf den Hof und gemeinsam gingen sie zu Athos hinüber, wobei Ysell immer darauf achtete, zwischen Läufer und dem Trosshund zu bleiben.
Oben an Athos´ linkem Hinterlauf war deutlich eine feuchte Stelle zu erkennen. Bogan strich mit dem Finger darüber und hielt ihn Ysell mit wissendem Gesichtsausdruck hin. Der Finger war blutig. „Gebissen!“, sagte er nur, und sah Läufer kopfschüttelnd an. „Der kleine Schreck wird ihm ganz gut bekommen.“
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