Die Welt - ein Tor Zu tausend Wüsten stumm und kalt!
Wer das verlor, Was du verlorst, macht nirgends Halt.
Friedrich Nietzsche; Vereinsamt (1887)
Über deinen Tod gäbe es so viel zu schreiben-und kei'm Lied könnte es gelingen
mich zu erlösen von dem Leiden-welches die Gedanken bringen.
Ich seh die alten Bilder prangen-die lange schon die Wand verzier'n
und mit dem weisen Kranich sangen-die Toten die dereinst mit ihm zieh'n.
So ziehe ich mit ihm von dannen,-doch hört man mich des nächtens schrein.
Ich schließ die Flügel, seh' mich fallen.-Kein Lied könnt je ein Abschied sein.
Nargaroth; Rasluka (2001)
Ich stand an einem See; zumindest glaubte ich im Traum oder in meiner Vision, dass es ein See sei. Genau kann ich es nicht sagen. Ich sah mich selbst, durchscheinend wie einen Geist am Gestade stehen. Was hinter mir war, konnte ich nicht erblicken, aber aus dieser Richtung wehte ein Wind herüber, der von jenseits meines Vorstellungsvermögens kommen musste. Von jenseits der bekannten Grenzen von Raum und Zeit. Er war kalt, so kalt, dass sich meine Lebensgeister zurückziehen wollten. Wie nackt im eiskalter Winterlandschaft fühlte ich mich. Der Wind brachte den Geruch von Verderben, von Fäulnis mit sich, die ganze Kakophonie des Grauens. Jeder einzelne Alptraum, den ich jemals hatte, er zog mit dem Wind an mir vorbei, hin zu diesem Gewässer. Mir schauderte und nackte Angst kroch an meiner Wirbelsäule empor und füllte mich komplett aus, meinen Körper, meinen Verstand, meine Seele. Die einzige Gnade bestand offenbar darin, dass ich keinen Blick auf das Wasser erhaschen konnte, denn über dem Gewässer breitete sich Nebel aus, so dass alles in einer Entfernung von über 20 Meter meinem Blick entzogen war.
Es war ruhig, eigenartig ruhig; nein; es war eher unheimlich still. Wenn jemals der Begriff Totenstille galt, so am Ufer dieses abartigen Wassers. Nichts regte sich und kein Laut drang an meine Ohren, die doch so sehr nach einem Geräusch gierten. Meine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, alles war so fremdartig, dass nichts aus meiner Erkenntniswelt eine Hilfe bot. Kein Anhaltspunkt, an welchem mein gemartertes Gehirn sich hätte orientieren können; nichts Vertrautes, an dem meine Seele hätte Zuflucht finden können.
Es war gespenstisch, zumal ich mich nicht erinnern konnte, wie ich an diesen unheimlichen Ort geraten war. Es war so surreal, so jenseits aller mir bekannten Erfahrungen. Und doch fühlte ich ganz tief in mir, dass dieser Schlund, diese Ausgeburt der Hölle fester Bestandteil einer Realität war, welche ich zu vergessen trachtete, welche ich weit von mir hinweg schob. Furcht packte mich ganz tief in meinem Inneren; ich fühlte mich unsagbar leer, leer und verloren. Das Wort Hoffnung schien so weit weg zu sein, dass es nicht einmal mehr eine Hülle war. Nein, an diesem Ort war keine Hoffnung, kein Vergeben, keine Zukunft, nicht einmal eine richtige Gegenwart. Dieser Ort war fleischgewordenes Miasma.
Dann begann sich die Wasseroberfläche leicht zu kräuseln, allerdings auf eine Art und Weise, die in unserem Universum einfach unmöglich war. Es widersprach jeder Vernunft und war deshalb absolut widerwärtig anzuschauen. Eine Erschütterung unterhalb der Wasseroberfläche war zu spüren mit allen verfügbaren Sinnen. Die Quelle schien tief unterhalb des widerwärtigen Gewässers zu sein. Die Erschütterung durchbrach die Wasseroberfläche und die Oberfläche kräuselte sich in jede nur erdenkliche Richtung. Eine riesige Blase quoll förmlich aus der Masse heraus, Wellen überlagerten sich nicht nur in konzentrischen Kreisen, nein, auch gerade Linien bildeten sich. Diese durchschnitten die Kreise und dabei bildeten sich neue Verwerfungen, Formen jenseits des menschlichen Vorstellungsvermögens.
Ich hatte das Gefühl, dass sich auch die Realität kräuseln und verformen würde wie ein Spiegelbild im siedenden Wasser. Ja, wie sich das eigene Spiegelbild in einem deformierten Spiegel verzerrt und seltsame Formen bildet, so verformte sich die Realität ganz offensichtlich. Ihre Oberfläche brach auf und darunter verbarg sich die absolute Wahrheit; von welcher ich aber nur Schwärze, Kälte und eine böse Widerwärtigkeit wahrnehmen konnte. Die Wellen überlagerten sich weiterhin und hinter den bizarren Formen schien sich eine seltsame, abartige und vieldimensionale Gestalt zu formen. Unfassbar für das menschliche Auge, aber gerade noch fassbar für den menschlichen Geist. Aus dieser verderbten Stadt, die sich ganz sicher am Grunde des Gewässers (wobei ich tief in meinem Inneren nicht davon überzeugt war, dass dieses Gewässer überhaupt einen Grund hatte) befinden musste, schien Energie an die Oberfläche zu schießen. Durch diesen Schuss an Energie formten sich aus dem weichen Material Klauen unvorstellbarer Klarheit und Härte und unendlicher Dunkelheit. Sie tasteten blind und gierig nach meinem Körper, fanden meinen Hals und umschlossen ihn mit einem eisernen Würgegriff, aus dem es kein Entrinnen gab.
Während die Luft aus meinen Lungen entwich, formten meine blutleeren Lippe mit einer letzten Kraftanstrengung Worte, deren Bedeutung sich meinen schwindenden Sinnen entzog:
„Verderbt-verderbte Stadt-bis tief ins gottverlassene Mark hinein. Weiche aus meinem Universum-fahre zurück in die Hölle, aus welcher Du entstiegen bist. Das Tote zurück zu den Toten-hinweg von den Lebenden.“
Der Inhalt einer Mail verändert das Leben
And He calls my name-First a whispering then louder
And he wants me to follow-And to fall down. The Eternal Fire......
Bathory; Enter The Eternal Fire (1987)
Man kann sich manchmal gar nicht vorstellen, wie schnell das Leben aus den Fugen geraten kann. Gerade ist man noch mitten im Leben und alles geht seinen routinierten Gang. Und dann, innerhalb eines einzigen Momentes, wird das Leben einfach auf den Kopf gestellt und nichts ist mehr wie es mal war. Und ganz schlimm ist es, dass es von da einfach kein Zurück mehr gibt.
Prolog in der Mitte der Geschichte
In the streets of Berlin-I'll find you there
Meet you there-In the streets of Berlin
I'll take you far away from here
Wild Dogs; Streets of Berlin (1987)
Es war ein wunderschöner Herbsttag am Ende des Monats Oktober. Die Sonne erhellte die Straßenschluchten des Prenzlauer Bergs, schien den Menschen regelrecht ein Lächeln ins Gesicht zu treiben. Es blitzte und funkelte, wenn sich die Sonne in den Scheiben der Geschäfte und Restaurants sowie in den Autofenstern spiegelte. Sogar die Tristesse der steinernen Großstadt schien etwas Schönes an sich zu haben. Der Alltag, sonst eher grau und trübe, er glänzte. Das ganze Leben schien mit einer schimmernden Patina überzogen zu sein.
Alexander Perlmann stand am Straßenrand und wartete geduldig darauf, dass die Ampel auf grün schalten würde. Er war erschöpft und verschwitzt von seiner langen Forschungsreise. Aber sonst war er ganz mit sich im Reinen. Erstaunlich, wie schnell sich die Dinge manchmal ändern können, wie blitzschnell die Realität aus den Fugen geraten konnte. In diesem Moment schien für ihn alles noch in bester Ordnung zu sein. Keine Stunde später würde für ihn die Welt zerbrochen sein und er versinken in einem Malstrom aus Tod, Verderben, Verzweiflung und Verdammnis. An diesem Spätherbsttag nahm das Grauen für Alexander seinen Lauf. Als er später einmal wehmütig an diese letzten Momente des Glücks und der Geborgenheit zurückdachte, da fragte er sich: Warum? Warum ich? Warum wir? Womit habe ich diese Apokalypse denn verdient? An wen auch immer diese Frage gerichtet sein mochte, er bekam bis zur letzten Seite dieses Buches keine Antwort. Es blieb nur der Ruf Gottes, der schon aus dem brennenden Dornbusch an Mose lautete: Wo warst Du, als ich die Welt erschuf?
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