Um 1900 entwickelte sich mit dem modernen Denkmalschutz die originale Materie zum höchsten Gut. Rekonstruktionen wurden hingegen als historisch wertlos erachtet. Trotz dieser deutlichen Abwertung gegenüber dem Original verleihen sie dem urbanen Raum historischen Wert. Wird das originale Objekt obendrein dekonstruiert, erscheint seine Materie marginal im Vergleich zu seiner sozialen Konstruktion. Somit stellt sich die Frage, ob sich das Konzept des Originals überhaupt eignet, den historischen Wert von Baubestand zu taxieren. Es bedarf vielmehr einer egalitären Sichtweise: So wird das wertende „original“ durch das neutrale „authentisch“ ersetzt. Das Authentische löst Gefühle der Bewunderung, der Ehrfurcht, der Begeisterung aus. Diese emotionalen Zustände will die authentische Stadt hervorrufen, um einen ästhetischen Beitrag zur urbanen Resilienz zu leisten.
Stefan Lindl, geboren 1969, lehrt und forscht an der Universität Augsburg in den Bereichen Wissenschaftstheorie, Architekturtheorie, Historische Authentizität und Environmental Humanities.
Stefan Lindl
Urbane Resilienz und Denkmalkult
Deutsche Erstausgabe
Gefördert von der Stadt Wien Kultur
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-7092-0306-4
eISBN 978-3-7092-5040-2
© 2020 by Passagen Verlag Ges. m. b. H., Wien
http://www.passagen.at
Grafisches Konzept: Ecke Bonk
Umschlag-Foto: © Nataly-Nete
Vorwort
Einleitung
Resilienz urbaner Räume
Die Stadt im 21. Jahrhundert
Leitbild authentische Stadt
Aufbau des Buchs
Der konstruktivistische Blick
Soziale Konstruktion und das Historische
Wissen, Wert, Diffusion
Kultur
Werte
Phänomenologie des Historischen
Das Original
Die Geburt des Originals
Dekonstruktion des Originals
Rekonstruktion
Genese der Rekonstruktion
Hommage: Das abstrakte Spiel mit dem Original
Kopie: Das mimetische Spiel mit dem Original
Denkmal: Soziale Konstruktion, Performanz, Erinnerung
Wert der Kategorien der Phänomenologie des Historischen
Kategorien historischer Werte
Indikationen der Phänomene des Historischen
Standesdünkel – Warum ein neues Kategoriensystem der Werte?
Von Indikationen zu historischen Werten
Historische Werte des baulichen Kulturerbes
Vorteile der historischen Werte
Beispiel Neuschwanstein: Bestandsbeschreibung
Doxa, Vorbilder, Diskurs
Bauplatz
Klassifizierung nach der Phänomenologie des Historischen
Die historischen Werte von Neuschwanstein
Authentisch und Authentizität
Historische Semantik des Authentischen
Authentia: Übereinstimmung von Sachen und Worten
Synonyme: Ursprünglich – Original
Säkularisation des Authentischen im 19. Jahrhundert
Ergebnisse: Authentisch
Analytische Unmöglichkeit des Authentischen
Authentizität und Emotion – eine ästhetische Kategorie
Operationalisierung – Bewertung von Baubestand und Stadtentwicklungskonzepten
Bestandserfassung, Analyse, Taxierung, Entwicklung
Operationalisierungskonzept
Resümee
Anmerkungen
Quellen
Literatur
Meiner Frau Cornelia Wild gewidmet
Dieses Buch wuchs in häuslicher Abgeschiedenheit im März 2020. Eigentlich wäre das nichts Besonderes. Wie sonst, wenn nicht in Ruhe und Einsamkeit, könnten Bücher geschrieben werden? Doch die Arbeit an diesem Buch vollzog sich anders als gewöhnlich. Ein wenig erinnerte Augsburg in diesen Wochen an die Atmosphäre Giovanni Bocaccios Decamerone . Die von ihm beschriebene Isolation in Fiesole während der ersten mittelalterlichen Pestphase transportiert ein ähnliches Gefühl: Unsichtbar war die Bedrohung in einer menschenleeren Stadt, in der Kirchturmglocken und Vögel den Ton angaben und für die markantesten Lärmemissionen sorgten. In dieser unwirklichen, leisen, bescheiden gewordenen Welt tippte ich Gedanken über den urbanen Raum und das Leitbild der authentischen Stadt auf die Festplatte. Das Buch wollte ich verstanden wissen als einen Vorschlag zur kulturellen Nachhaltigkeit, beziehungsweise einer Kultur der Nachhaltigkeit, in der Stadt der Zukunft. Ich ging davon aus, die urbane Zukunft sei leise, verzichtete auf den Lärm der Verbrennungsmotoren. Arbeit bedeute, so glaubte ich, am Computer im Homeoffice zu agieren und in Webkonferenzen zusammenzukommen. Fern, so dachte ich, seien diese Vorstellungen. Nun war diese Zukunft durch Ausgangsbeschränkungen unerwartet Gegenwart. SARS-Cov-2 hieß der Grund. Es war keineswegs ein Umdenken für den Klimaschutz, der diese Zukunft zum Jetzt gemacht hatte. Plötzlich verordnete ein Virus den radikalen Klimaschutz, den niemand für möglich gehalten hätte. Plötzlich wurden auch die enormen Verluste sichtbar, die ein radikaler Eingriff bewirkt. Obwohl die Möglichkeit des Klimaschutzes in greifbare Nähe zu rücken schien, wurde seine Ferne schmerzlich spürbar.
Das Virus und seine pandemische Verbreitung wirkten sich auf das Buch sehr wohl aus. In Bayern waren die Bibliotheken geschlossen, der Zugriff auf Literatur war nicht annähernd im gewohnten Maße möglich. So verzichtete ich weitgehend auf Fußnoten. Das Buch stellt die Weiterentwicklung meiner Habilitationsschrift dar. Sie wurde in Teilen publiziert. Im November 2016: Kategorien historischer Authentizität in Architektur und Denkmalschutz . Ein Jahr später folgte die grundlegende Methode im Passagen Verlag: Der Umgang mit Gewordenem. Signifikanten-Interaktionsanalyse (SIA) . Nach vielen Lehrveranstaltungen und Vorträgen und den damit verbundenen Diskussionen erscheint Die authentische Stadt. Zwischen Klimaschutz und Denkmalkult . Das Buch unterscheidet sich teils erheblich von den Positionen der Habilitationsschrift Architekturen des Authentischen , wäre aber nicht ohne sie möglich gewesen. Mein Dank gilt deswegen den Mitgliedern meines Habilitationsmentorats Marita Krauss, Lothar Schilling und Anselm Doering-Manteuffel, die mich kritisch begleiteten. Winfried Nerdinger und der verstorbene Michael Petzet beeinflussten mich mit ihrem kritischen Denken und ihren analytischen Blicken auf die Rekonstruktion.
Ohne die vielen Diskussionen mit Studierenden wären die entscheidenden Weiterentwicklungen nicht möglich gewesen. Ich danke deswegen allen voran den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meiner Vorlesung im Wintersemester 2019/2020. Die vielen Diskussionen und Anregungen waren überaus hilfreich. Die kritischen Nachfragen brachten mich immer wieder in Erklärungsnöte. Diese wöchentlichen Auseinandersetzungen waren wichtig für Gestaltung und Aufbau des Buchs, aber auch für die mehrfache Überarbeitung der hier vorgestellten historischen Werte. Raphael Huppmann danke ich für die wöchentlichen Diskussionen und Anregungen. Nicolas Pols versorgte mich zielsicher mit Literatur und Beispielen. Unermüdlich telefonierte er mit Ämtern und Behörden, um an Materialien aktueller Projekte zu kommen.
Meinen Schwiegereltern, Christa Grune-Wild und Frank Wild, gilt ebenso mein Dank. In deren Garten entstand das erste Kategoriensystem der historischen Werte. Das Buch atmet die anregende Atmosphäre des Nordschwarzwalds unter dem Hausberg Baden-Badens, dem Merkur.
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