Es beschäftigt sich mit der Entwicklung von Analysemethoden der historischen Wertermittlung und der Authentizitätsbestimmung von Kulturerbe. Regional- und landesgeschichtliche Forschung sowie Befunde der Bauforschung, des Denkmalschutzes und der Kunstgeschichte werden interdisziplinär vereint, um Grundlagen für eine historisch argumentierende Stadtentwicklung zu erarbeiten, die auf geschichtskulturelle Nachhaltigkeit zielt. Das Buch möchte die geschichtskulturelle Dimension in der Diskussion um die nachhaltige Entwicklung urbaner Räume stärken und mithilfe der Zeichentheorie dem bestehenden Denkmalschutz Lösungen für die Zukunft der urbanen Räume zwischen Klimaschutz und Denkmalkult anbieten.
Ausgangspunkt sind die Positionen Alois Riegls zur Denkmaltheorie. Er ist einer der einflussreichsten Kunst- und Denkmaltheoretiker des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie prominenter Vertreter der kunsthistorischen Wiener Schule. Riegls universalistischer Denkmalbegriff und seine Kategorien der Gegenwartswerte und Erinnerungswerte des Denkmals erfahren eine Reflexion an den gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der New Urban Agenda . Neben Riegls Gebrauchswert und relativem Kunstwert sowie historischem Wert und Alterswert wird hier der historische Wert differenziert aufgeschlüsselt und um historische Authentizität als ästhetische Kategorie sowie als Zuschreibungsnarrativ erweitert. Historische Authentizität ersetzt Wort und Begriff des Originals, das im 20. Jahrhundert als wichtigster und höchster Wert in Kunstgeschichte, Denkmalschutz und Denkmalpflege gesetzt worden war. Mit der hier vorgestellten aufgefächerten Kategoriensystematik lassen sich verschiedenste Phänomene des Umgangs mit Kulturerbe erfassen, klassifizieren und taxieren.
Das Buch gliedert sich in fünf Argumentationsschritte. Zu Beginn werden die Grundlagen der Argumentation erläutert und grundlegende Begriffe aus der Perspektive des Konstruktivismus dargelegt. Soziale Konstruktion, historischer Wert werden skizziert und eingeordnet. Darauf folgt eine Betrachtung von Wissen, Wert und Diffusion. Sodann wird Kultur als Umwelt definiert.
Als zweiter Teil folgt eine Phänomenologie des Historischen, in der das materielle Original zugunsten der Zuschreibungspraktiken und Sprechakte dekonstruiert wird. Aus dieser Dekonstruktion werden Indikationen für Originale exzerpiert. Identisch wird die Rekonstruktion betrachtet. Es folgen die Hommage, die Kopie und das Denkmal. Aus den daraus abgeleiteten Indikationen werden in einem vierten Teilschritt Kategorien historischer Werte exzerpiert, die Spielarten des Originals, also Rekonstruktion, Hommage, Kopie oder Denkmal, obsolet machen. An einem allbekannten Beispiel, dem Schloss Neuschwanstein, wird der Mehrwert dieses Klassifizierungssystems durch die historischen Werte erläutert. Zwar ist Neuschwanstein nicht für den urbanen Raum repräsentativ, doch ist es als ein prominentes, sehr komplexes Bauwerk mit verschiedensten historischen Werten ein dienliches Objekt für die Analyse der historischen Werte. In einer Transferleistung kann dieses Beispiel auf Stadtviertel, Ensembles oder Einzelbauwerke angewendet werden.
Im fünften Schritt folgt die semiotische Bestimmung der Authentizität und des Authentischen ab dem 18. Jahrhundert und ihrer kontemporären Bedeutungsformen. Das Problem des historischen Authentischen und der historischen Authentizität besteht in der Unmöglichkeit, sie unmittelbar zu analysieren. Deswegen werden die zuvor erarbeiteten historischen Werte in ihrer Korrelation zum Authentischen dargelegt. Durch den Umweg über sie lässt sich das Authentische analysieren. Schließlich werden Authentizität und das Authentische als ästhetische Kategorien dargelegt und erläutert. Das Authentische wird hier als Ersatz für den Begriff des Originals vorgestellt, weil das Original zu sehr von den Bedeutungen des 20. Jahrhunderts bestimmt ist. Das Authentische lässt sich wesentlich unideologischer anwenden als das Original. Im sechsten Teilschritt werden die Herleitungen operationalisiert, um sie für Stadtentwicklungsprojekte anwenden zu können. Ein pseudonymisiertes Beispiel eines typischen Projekts einer Stadtviertelentwicklung verdeutlicht die Operationalisierung.
Der konstruktivistische Blick
Soziale Konstruktion und das Historische
Am Anfang aller Dinge steht deren soziale Konstruktion. Mag ein Gegenstand auch wahrnehmbar sein, sichtbar, fühlbar, hörbar, riechbar, so genügt das nicht, damit er benannt sowie in Funktions- und Handlungsabläufe einbezogen werden kann. Er muss intentional werden, unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen und kognitiv präsent sein. Darüber hinaus muss er in Wissensformationen eingebettet werden, die abrufbar sind, um für Handlungsentscheidungen nützlich und nutzbar zu sein. 7 Wissen macht Dinge! Erst das Wissen, das Sprechen, das Austauschen, das Verhandeln über einen Gegenstand erschafft ihn als Bestandteil gesellschaftlichen Lebens. Zuvor ist das Ding einfach nur ein Ding, ob materiell oder immateriell – dinglich und nutzlos! Soziale Konstruktion generiert Bedeutungen, Gebrauchsanleitungen, Handlungsanweisungen, Wertzuschreibungen. Kommunikation über die Schar der Objekte konstruiert die Dinge, generiert sie, konstituiert sie, normativiert sie, gewährleistet ihre soziale Verfasstheit und Wertigkeit. Im kommunikativen Handeln entsteht die Werteordnung einer sozialen Gruppe innerhalb eines historisch bedingten kulturellen Rahmens, der aus tradierten Wissensformen besteht, die über Jahrhunderte angewachsen sind und weiterhin ständigem Wandel unterliegen, ohne dass ihre Wurzeln gänzlich unterdrückt werden oder verschwinden könnten. Für die stete Neupositionierung der Gesellschaft in den folgenden Gegenwarten ist die diachronhistorische Selbstreflexion unumgänglich. Positionierung beruht immer auf Differenz. Die Differenz zum Jetzt ist Vergangenheit wie Zukunft. Das, was wir erreicht haben, und das, was wir wollen. Deswegen sind Historie, Selbstreflexion und Genese des Werdens von Wissen ein so wertvoller Bestandteil des Lebensvollzugs und seiner Handlungsentscheidungen. Ohne die historisch-kulturelle Bedingtheit der Werteordnungen zu kennen, können sie nicht effizient hinterfragt und umgestaltet werden. Keine Risikoabschätzungen ließen sich erzielen, gäbe es nicht die historische Reflexion des Gegenwärtigen.
Darüber hinaus wissen wir: Nichts ist langweiliger als die Gegenwart! Wird sie lediglich als Solitärerscheinung, ohne ihre Historie betrachtet, verfügt sie über nichts anderes als ihre akute Ästhetik. Oberflächlich könnte eine solche ahistorische Betrachtungsweise genannt werden. Es fehlten dabei Gedächtnis und Erinnerung. Für Gesellschaften könnte kaum etwas gefährlicher sein, als vegetative Formen sozialen Lebens anzunehmen, weil sie vermeinten, auf Gedächtnis und Erinnerung verzichten zu können. Es folgte daraus der Verlust des Rechtsstaats, der im Vegetativen keinen Platz im tristen Hier und Jetzt hätte. Sozial relevant sind Reflexionen des Wandels, die historische und gegenwärtige Zeitschichtungen ver- und abgleichen. Sie sind entscheidend für das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft und formen die Grundlagen der einzigartigen, unverwechselbaren authentischen Zustände unserer jeweiligen Gegenwarten. Ohne die Erinnerung an das Historische wäre die Umwelt, in der wir uns befinden, bedrückend eindimensional. Die soziale Konstruktion reichert die Wahrnehmungsebene entscheidend mit Wissen an, das wiederum grundlegend für die Wertzuschreibungen der Dinge ist und das Volumen der Dinge vervielfacht. Vergangenheit ist soziale Konstruktion und Gegenstand des historischen Blickens zugleich. Dieser sozial konstruierte Anteil der Dinge ist wichtiger als die Dinge selbst. Er entscheidet darüber, ob die Dinge durch die Zeiten Bestand haben, ob sie bleiben, ob sie gehen, ob sie echt sind oder Fälschungen, ob wichtig oder unwichtig. Das alles bestimmen nicht die Dinge über sich selbst; ihnen ist das nicht vergönnt. Vielmehr regiert und richtet über sie als Souverän die soziale Konstruktion in Form von Sprechakten: Dies sei echt. Dies sei falsch. Dies sei wichtig. Dies sei unwichtig.
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