Aus konstruktivistischer Perspektive besitzt demnach kein materielles oder immaterielles Objekt Wert, ohne dass wir ihn zuvor konstruiert hätten. Anders gesagt: Jedes Objekt ist absolut wertlos, solange soziale Konstruktion es nicht kultiviert und sozialisiert. Dazu ein Beispiel aus der Zeitgeschichte: Als die Taliban-Milizen die Buddha-Statuen von Bamyian ab dem 12. März 2001 zerstörten, erfolgte dies – so eine bis heute gültige Deutung – als ein ikonoklastischer Akt, der sich gegen die sozialen Konstruktionen der Weltgemeinschaft richtete. Jene Destruktion hatte mit Gewissheit die politische Dimension sehr wohl explizit zu machen, die Werte der anderen seien nicht die Werte der Taliban. Die Weltgemeinschaft hatte die Statuen mit dem Titel Weltkulturerbe sakrosankt erklärt. Damit wurde ihnen Unantastbarkeit durch ein soziales weltweit gültiges Wertekonstrukt verliehen. Es beruht auf der UNESCO-Welterbekonvention vom 16. November 1972, der bislang 193 Staaten beigetreten sind. 8Dieses vertragliche Wertekonstrukt greift aber nur so weit, wie seine Verbindlichkeit empfunden wird. Es ist schließlich nur menschlichen und nicht göttlichen Ursprungs. Weil die Statuen in der Auslegung des Korans durch Taliban-Milizen gegen das Bilderverbot verstießen, durften und mussten sie zerstört werden, so rechtfertigten sich die Sprengmeister und deren Hintermänner. Nebenbei konnte politisch agiert werden, um mit einem in den Augen der Weltgemeinschaft skandalösen Akt Macht, Autonomie, Souveränität zu demonstrieren. Eine soziale Wertekonstruktion, die Auslegung des Bilderverbots im Koran, führte zur Zerstörung von Symbolen einer anderen Religion. Es war also die Zuschreibung eines Unwertes, der das destruktive Handeln innerhalb der Gruppe der Zerstörer rechtfertigte, vermeintlich im Sinne Allahs und dadurch scheinbar sogar von allerhöchster Stelle göttlich-normativ abgesichert. Der Wertegemeinschaft der Weltgemeinschaft, die sich der UN und besonders der UNESCO verpflichtet hatte, standen göttliche Worte und die daraus abgeleitete soziale Konstruktion gegenüber. Ein Kräftemessen der Normative, das auch besagt: Ohne soziale Konstruktion keine Handlung, die stets innerhalb von Werteordnungen vollzogen wird, mitunter gegen die Konventionen der Weltgemeinschaft, die solche destruktiven Akte juristisch kaum ahnden kann.
In einer spielerisch-erdachten Welt-Wertegemeinschaft des 19. Jahrhunderts, die Kunstwerke verwaltet , hätte es den Aufschrei bezüglich der Buddha-Statuen von Bamyian nicht gegeben. Künstler des 19. Jahrhunderts hätten sie, dankbar für die Zerstörung der nicht mehr schön erhaltenen Statuen, in der Perfektion des Neuwerts wiedererrichtet. Das 19. Jahrhundert erachtete neuwertige Rekonstruktion als obersten Wert. Das Original hingegen hatte keinen Wert. Sie abzureißen entsprach nicht einem Sakrileg, weil die historische Ästhetik und nicht die Geschichtlichkeit der Bauwerke in der Bewertung überwog. Deswegen wurden unter diesen Voraussetzungen völlig legitim Burgruinen abgetragen und wieder neu errichtet, wie im Falle von Neuschwanstein im Auftrag Ludwigs II. von Bayern oder in Teilen die Burg Dankwarderode in Braunschweig. Aber auch der Kölner Dom ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie im 19. Jahrhundert agiert wurde: Er musste fertiggebaut werden. Ohne Zweifel eine großartige Leistung des 19. Jahrhunderts. Trotzdem lässt sich heute sagen, es wurde der authentische historische Bestand des Doms, der auf das 19. Jahrhundert gekommen war, zerstört. 9Spuren der Entwicklung des Kölner Doms wurden einem ästhetischen Ideal und Gesamteindruck geopfert, der nur mit industriellen Mitteln möglich war. Das trifft auch für das Ulmer Münster oder den Dom von Regensburg, ebenso für Notre Dame de Paris zu. Hunderte andere originale Kirchen aus der Spätgotik wurden zerstört und im reinen spätgotischen Stil wiedererrichtet. All das wäre nach 1900 nicht mehr denkbar gewesen. Eine neue Kultur, die Kultur des Originalen, hatte die Deutungshoheit und Deutungsmacht des Historischen übernommen. – Andere Kulturen, andere Werte. Werte sind und bleiben volatil.
Wert bedeutet also Wert für eine soziale Gruppe zu einer bestimmten Zeit. Wert siedelt auf Wissen. Gibt es kein Wissen über ein Objekt, kann es auch nicht wertvoll sein. Zuerst folgt Wert dem Wissen. Daraufhin setzt sich ein zirkulärer Prozess in Gang. Wissen und Wert bedingen sich wechselseitig. Je wertvoller ein Objekt, desto mehr wird versucht, Wissen darüber zu generieren. Je mehr Wissen über ein wertvolles Objekt gewonnen ist, desto höher klettert sein Wert. Das kulturelle Kapital lässt sich transformieren in ökonomisches. Ein unbekannter Künstler mit weniger kulturellem Kapital wird sich nicht in die Höhe des ökonomischen Kapitals transformieren lassen, wie ein Werk von Angelika Kaufmann, deren symbolische Prominenz den ökonomischen Wert taxiert. Die soziale Konstruktion erntet einen Wald und macht aus ihm eine Bibliothek inklusive OPAC-System unserer Dinge. Soziale Konstruktion ist Namensgeber, bestimmt Position, Funktion, Bedeutung, Wert und erinnert den Wandel, die Dynamik dieser sozialen Größen im Laufe der Zeit.
Am Beispiel eines prominenten Kulturerbes, der Mona Lisa, wird deutlich, warum dieses Bild einen erheblichen kunsthistorischen Wert erlangte. Obgleich das Wissen über die Mona Lisa nicht allgemein präsent ist, hat es dazu geführt, dass das Gemälde eine geradezu kultische Verehrung genießt. Dieses Wissen um die Wertschöpfung des Gemäldes scheint keinesfalls notwendig für seine Huldigung zu sein. Aber es hilft zu erläutern, warum es diese extrem ausgeprägte Ikonodulie der Mona Lisa gibt und warum sie Grund ist, nach Paris zu fahren. 10
Leonardo da Vinci, der Schöpfer des im langwierigen Sfumato lasierten Gemäldes, verbrachte seine letzten zwei Jahre, 1518–1519, auf Schloss Clos Lucé in Amboise. Von Franz I. war er eingeladen und mit Heim und Rente versorgt worden. Nach Clos Lucé hatte er neben den Bildern Anna selbdritt und Johannes der Täufer auch Mona Lisa mitgenommen. Franz I. kaufte die Mona Lisa, je nach Spekulation vor oder nach des Universalgelehrten Tod. Damit beginnt Lisas Reise. Von Schloss Amboise nach Fontainebleau, von dort nach Versailles in die Kunstsammlung Ludwigs XIV. Die Revolution transportierte das Bild in den Louvre, der als Muséum central des arts de la République am 10. August 1783 eröffnet worden war. 11Napoleon verbrachte es in seine Privatgemächer. Nach seiner Verbannung wurde es wieder im Louvre ausgestellt. Gewaltig wuchs die Bekanntheit des Tafelbildes im 19. Jahrhundert. Dafür sorgte die europaweite Rezeption Giorgio Vasaris Le Vite de’più eccellenti pittori, scultori et architettori . 12Vasari stilisierte Leonardos Mona Lisa zum Ideal der mimetischen Kunst. „Wer sehen wollte, wieweit es der Kunst möglich sei, die Natur nachzuahmen, der erkannte es ohne Schwierigkeiten an diesem Kopfe. Denn alle kleinsten Einzelheiten waren darin dargestellt, die man mit aller Feinheit nur malen kann.“ 13Entscheidend für die deutsche Vasari-Rezeption war Ludwig von Schorn, der die Künstler der Renaissance ins Deutsche übersetzt herausgegeben hatte. 14Aber der Vasari-Mona-Lisa-Diskurs und die historische Entourage der Mona Lisa ermöglichten nicht annähernd die Prominenz, die das Bild am Beginn des 20. Jahrhunderts erlangen sollte. Nicht künstlerischer Qualität, nicht Leonardo, nicht Franz I. noch Ludwig XIV., Napoleon I. und schon gar nicht den Historisten gelang die narrative Wertschöpfung, die durch einen unbekannten italienischen Migranten erfolgte, der weder durch geschickte Kriegsführung und Schlachtenglück noch durch künstlerische Genialität auffallen hatte können. Vincenzo Peruggia arbeitete als Glaser und hatte berühmte Gemälde des Louvre mit Glasplatten versehen, um ihnen Schutz vor den Besuchern zu gewähren. 15Die Ortskenntnis und das Wissen um die Bilder verhalfen ihm, den bis dahin spektakulärsten, weltweit wahrgenommenen Kunstraub am 21. August 1911 auszuführen. Gerade durch die diskursive Wertsteigerung der Vasari-Rezeption war die Mona Lisa zum Objekt der Begierde geworden. Er versteckte zwei Jahre lang das Kunstwerk in seiner Wohnung. Während dieser Zeit gab es eine Reihe von prominenten Verdächtigen. Der Lyriker Guillaume Apollinaire und Pablo Picasso gerieten aufgrund von Denunziation unter Verdacht; Apollinaire wurde verhaftet, Picasso nur verhört. Zwei Jahre nach dem spektakulären Kunstraub bot Vincenzo Peruggia die Mona Lisa einem Florentiner Kunsthändler an, der informierte den Direktor der Uffizien, Giovanni Poggi. Gemeinsam überzeugten sie sich von der Echtheit des angebotenen Tafelbildes. Sie informierten die Polizei. Peruggia wurde verhaftet. Im Verhör gab er an, aus Nationalgefühl gehandelt zu haben. Er wollte das berühmte Bild in seine Heimat Italien schaffen. Als freier Mann ging Peruggia aus dem Gerichtsgebäude, weil er seine Strafe bereits in der Untersuchungshaft abgesessen hatte. Es blieb nicht aus, dass Italien Vincenzo Peruggia als Nationalheld verherrlichte und feierte. Über Mailand kam das Gemälde im Dezember 1913 wieder zurück in den Pariser Louvre. Mona Lisas unruhige Geschichte ging weiter, eine Flucht vor Hermann Görings Kunstleidenschaft, ein Aufenthalt im Schloss Chambord, die Rückkehr in den Louvre. Doch dann brachte die Ausstellung des Kunstwerks in New York weitere soziale Konstruktionen hervor. Vor allem ihre Überführung durch Andy Warhol in die Reproduzierbarkeit seiner industrialisierten Kunstproduktion durch Siebdruck machte die Mona Lisa zu einer Ikone der Populärkultur, die sich ablöste von der elitären Kunstschwärmerei des 19. Jahrhunderts. Gegenwärtig ist die Mona Lisa das bekannteste Gemälde der Welt. Es ist nicht von sich aus prominent erschaffen worden. Vasari hatte entscheidenden Anteil daran, aber auch seine Rezipienten, die seine Texte über Leonardo da Vinci in die Moderne trugen, und natürlich Peruggia und Warhol. Nur durch diese soziale Konstruktion konnten die Prominenz und der gewaltige historische Wert entstehen, ganz zu schweigen von dem ökonomischen und dem kunsthistorischen. Was wäre gewesen, hätte Vasari nicht dieses Werk als mimetisches Ideal gelobt? Das 19. Jahrhundert hätte die Mona Lisa möglicherweise nicht entdeckt. Und vielleicht wäre es, wie so viele Kunstwerke, im Louvre der breiten Masse der Touristenströme entgangen: Beispielsweise Gian Lorenzo Berninis Matratze des Schlafenden Hermaphroditen aus weißem Marmor von 1620. Ebenso ein grandioses Stück mimetischer Kunst. Leider war es nicht einfach zu stehlen und Giorgio Vasari war schon längst gestorben, als Bernini auf die Welt kommen sollte. Aber auch die Hochzeit zu Kana von Paolo Veronese gehört zu den nicht ganz so weltberühmten Kunstwerken des Louvre. Es ist ein Bild größter Ausmaße: Vor lauter Mona Lisa, obgleich im selben Saal gegenüber der Berühmtheit aufgehängt und keineswegs seiner schieren Größe wegen zu übersehen, ist dieses Kunstwerk aufgrund mangelnder sozialer Konstruktion nicht mit annähernd ähnlichem Wert ausgestattet. Zum Wert gehört Wissen, verpackt in eine aufregende Geschichte.
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