Die Tage des Schreibens waren geprägt von Gesprächen mit meiner Frau Cornelia Wild. Die Relationen von Authentizität als ästhetische Kategorie, Körper, Leib und Emotion beruhen auf den Schwerpunkten ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Erst diese Worte und Begriffe ermöglichten es mir, den Argumentationsstrang zu vervollständigen.
Die universelle Denkmaltheorie des Wiener Kunsthistorikers Alois Riegl steht Pate für das Leitbild „Authentische Stadt“. Riegls Denkmalwerte ermöglichten es, eine Reihe von historischen Werten abzuleiten, die teils losgelöst von der Materie im sozial-konstruierten Raum siedeln. Der Kulturabteilung der Stadt Wien danke ich für die Druckförderung.
Augsburg, am 25. April 2020
Stefan Lindl
Einleitung
Resilienz urbaner Räume
Zwischen Klimaschutz und Denkmalkult will dieses Buch eine Stadtentwicklung skizzieren, die auf Weiterentwicklung des (historischen) Baubestands basiert. Nicht Neubauen, sondern Weiterbauen ist das Grundverständnis der authentischen Stadt . Als Leitbild versucht sie, vor allem eine ästhetische Ausprägung von Resilienz im urbanen Raum zu entwerfen. Es soll eine soziale Konstruktion der Identität, der historischen Positionierung und des emotionalen Wohlbefindens erzeugt werden. Gleichzeitig entspringt die Forderung nach Weiterbauen statt Neubauen einer Kultur der Nachhaltigkeit, die kulturelle Nachhaltigkeit gewährt. So möchte das Leitbild der authentischen Stadt psychische Stabilität durch eine Semiotik historischer Verbundenheit erzielen. Diese ästhetische Resilienz beruht auf Identität, Integrität, Positionierung in Zeit und Raum. Sie erwirkt emotionale psychische Zustände, die Rückhalt bieten, weil sie ein festes Bezugssystem darstellen.
Das Leitbild der authentischen Stadt ist eine Reaktion auf die notwendige Forderung nach Resilienz im urbanen Raum, die mit ästhetischen und epistemologischen Mitteln antwortet und aus der Vergangenheit schöpft. Folglich werden mit diesem Leitbild weiche Faktoren in den Resilienz-Diskurs eingeführt. 1Die Schlüsselforderungen bestehen darin, historische Werte zu schaffen . Damit werden Authentizitätszuschreibungen möglich, um in der Folge emotionale Zustände aufgrund der Rezeption des Authentischen zu erschaffen und zu steigern. Das Leitbild der authentischen Stadt will ästhetisch wirken und Wohlbefinden im urbanen Raum auf einer epistemologischen Grundlage generieren. Das heißt verkürzt: Wohlbefinden durch weiterentwickelten historischen Baubestand und die Anwendung von Wissen darüber. Oder: Wohlbefinden und Resilienz aufgrund der sozialen Konstruiertheit des urbanen Raums . 2
Die Stadt im 21. Jahrhundert
Für Klimawandel wie Klimaschutz besetzen die städtischen Räume Schlüsselpositionen des 21. Jahrhunderts. Seit dem Jahr 2008 wohnt über die Hälfte der Menschheit in Städten. In den Industrieländern liegt die Zahl der Stadtbewohner weit über dem globalen Durchschnitt: in Deutschland 77 %, in den USA über 82 %. Die UNO geht von einer fortwährenden Urbanisierung vor allem in Asien und Afrika aus. Laut einer Schätzung wird sich die Stadtbevölkerung weltweit bis 2050 durch Migration und Binnenmigration verdoppeln. 3Der Zuzug wird auch durch klimabedingte Binnenmigration den Druck auf urbane Räume erhöhen. Vor allem der Anstieg des Meeresspiegels zwingt absehbar zur Aufgabe urbaner Räume an den stark besiedelten Küsten. Neben den klimabedingten Verlusten von Wohnraum ist auch Kulturerbe und Weltkulturerbe dem Untergang geweiht, sollte es nicht transloziert werden können. Langfristig bedroht der Anstieg des Meeresspiegels jede fünfte UNESCO-Weltkulturerbestätte. 4In den kommenden Jahrzehnten erhöht sich folglich aus den verschiedensten Gründen der Druck auf die Städte. Das bedeutet, neue Wohnräume müssen erschlossen, entsprechende urbane Konzepte entwickelt werden, um voraussehbare soziale Konflikte abzuwehren und allgemein die Resilienz urbaner Räume zu erhöhen. Um den Druck zu mildern, gibt es keine Alternative zu neuem Wohnraum. Doch gerade darin liegt eine nicht ganz unwesentliche Gefahr, die zuerst effiziente Ressourcenökonomie, sodann den Klimaschutz betrifft. Ressourcenökonomisch ist das Problem sofort evident: Wohnungen benötigen Raum, der wie alle Ressourcen knapp ist und viele Städte vor ein Problem im urbanen und suburbanen Bereich stellt. Schnell wird deswegen eine ethische Frage virulent: Welchen neuen Wohnraum wollen wir in Zeiten des Klimawandels?
Es wäre möglich, auf Brachflächen oder anstelle bautechnisch ineffizienter Bauten neu und stark verdichtend zu bauen. Eine auf den ersten Blick gute Idee. Wäre da nicht ein keineswegs marginaler, sondern gewaltiger Haken. Neubauten befeuern den Klimawandel: Keine Branche emittiert so viel wie das Bauwesen, keine produziert mehr Abfall, keine geht so verschwenderisch – und damit unmoralisch – mit Ressourcen um. Alle drei Punkte, verminderte CO 2-Emissionen, Reduktion des Deponiegutes und effizient-moralische Ressourcennutzung, sollte die Baubranche in Zukunft unbedingt anvisieren. Ohne systemisch-normative Eingriffe wird es kaum möglich sein, diese notwendigen Klima- und Ressourcenschutzziele zu erreichen. Aber auch weniger komplex könnte die Baubranche agieren, um nachhaltiger zu werden. Eine Kultur der Nachhaltigkeit müsste tradierte Formen des Bauens überwinden: Wiederverwertung sowie Weiterentwicklung des bestehenden Baubestands könnten die zukünftigen Leitlinien der Bauwirtschaft werden. Dazu kommt die Notwendigkeit, klimaneutrale und recycelbare Baustoffe zu verwenden. Wir benötigen neue Werte des Bauens und andere Arten der Wohnraumerschließung in der Stadtentwicklung. Auf die Frage, welchen neuen Wohnraum wir in Zeiten des Klimawandels wollen, gibt es folglich eine einfache Antwort: Die Kultur des Neubauens kollidiert mit einer Kultur der Nachhaltigkeit. Neue Urbanität sollte das Neubauen durch Weiterbauen ersetzen und CO 2-neutrale Baustoffe verwenden .
Der historische Blick in die vorfossile Vergangenheit kann einige Konzepte des Weiterbauens und Weiterentwickelns im urbanen Raum entdecken. Sie waren bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Standard im Städtebau. Zu teuer und zu aufwendig war der Abriss von Architekturen. Deswegen wurden mehrere Bestandshäuser zusammengefasst und mit einheitlichen Fassaden versehen, um ästhetische Gesamteindrücke zu erzeugen. Erst fossile Energieträger ermöglichten die Kultur des Neubauens, weil der Maschineneinsatz Abbrucharbeiten kostengünstig machte. Auch der Abtransport von großen Mengen Bauschutt konnte erst dann effizient erfolgen. Die Kultur des Neubauens erweist sich als fossiles Kind der Industrialisierung. Neue Urbanität könnte sich an den vorindustriellen nicht fossilen Konzepten des Bauens ein Beispiel nehmen. Aber das wäre nur einer der vielen Punkte, die Neue Urbanität berücksichtigen muss: Zukünftig ruht sie auf CO 2-neutralen Energiekonzepten, sie ordnet und organisiert Mobilität neu, nutzt Räume, die gegenwärtig dem Automobilverkehr vorbehalten sind, aktiviert und initiiert Grünflächen, vermeidet Lärmemissionen, strebt die Abkehr von der gegenwärtigen Form der Konsumgesellschaft an. Die Stadt der kurzen Wege wird Eigentum hinterfragen. Nutzen statt Besitzen wird nicht nur die Mobilitätskonzepte kennzeichnen. – Im Oktober 2016 wurden diese Eckpunkte in der „New urban Agenda“ der United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development in Quito als Handreichung für die zukünftige Stadtentwicklung zusammengefasst. 5
Eine Baukultur der Nachhaltigkeit, die sich das Weiterbauen als eines ihrer Prinzipien erwählte, wirkte sich direkt auf das bauliche Kulturerbe aus, das sich mehrheitlich im Urbanen befindet. Bauliches Kulturerbe wird hier im weitesten Sinne verstanden. Es bezieht sich auf alle Bauwerke und nicht nur auf kunsthistorisch wertvolle Baudenkmale. Dieses bauliche Kulturerbe in seinem großen Spektrum soll weiterentwickelt werden. Doch mit dem Konzept des Weiterbauens wird etwas virulent, das bislang in der Baubranche oft als lästiger Bestandteil abgetan wurde, weil er Rücksichtnahme und Planung erfordert: Weiterentwicklung bedeutet Wandel, der nicht ohne eine historische Reflexion erfolgen kann. So rückt aus Klimaschutzgründen jenseits des Zerstörens und Neubauens das Historische als gewichtige Größe in Stadtentwicklungskonzepte und deren Gestaltungsaufgaben. Jedes Weiterbauen vermeidet CO 2.
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