Ich hatte mir vorher natürlich angesehen, was andere da geschrieben hatten. Die meisten zählten irgendwelche Komiker auf, Filme oder Bücher, manche schrieben einen kurzen Witz hin („Kommt ein Mann zum Arzt ...), und etliche versuchten es mit: „Ich lache am liebsten über mich selbst.“
„Wer so etwas schreibt, ist ein gnadenloser Schleimer“, schrieb ich in meiner Antwort, „ich lache am liebsten über andere.“
„Wenigstens sind Sie ehrlich“, stand in der ersten Mail, die ich von „Meretseger“ bekam – ich selbst hatte mir übrigens den Nick „Sundowner“ verpasst. Sie schrieb selten mehr als ein oder zwei Sätze, die aber waren immer sehr präzise auf den Punkt formuliert. Ich antwortete: „Ehrlich währt eben am längsten.“ Sie schrieb zurück: „Muss für Sie denn immer alles lange währen?“ Das klang, also ob da jemand auf ein schnelles Abenteuer aus war, was mir nur recht sein konnte. Ich antwortete: „Wenn’s schön ist, schon – doch wie lange ist lange ?“ Sie schrieb: „Auf jeden Fall nicht ewig.“ Damit zählte sie schon mal nicht zur verzweifeltsten Lovefinder-Fraktion – zu denen, die noch an die ewige Liebe glauben. Die Sache versprach, interessant zu werden.
So ging es eine Weile weiter. Wir tauschten mehr oder weniger hintergründige Einzeiler aus. Sie verlangte nie ein Bild von mir, hatte allerdings auch keines von sich in ihr Profil gestellt. Das lässt eigentlich nichts Gutes erwarten, regt aber enorm die Phantasie an, das kann ich Dir sagen. Stets vermittelte sie den Eindruck einer Frau, die weiß, was sie will, und die sich nimmt, was sie will. Das inspirierte mein Kopfkino erst recht – was ihr wiederum in jeder Sekunde bewusst zu sein schien.
Bald wechselten wir aus dem Forum ins normale E-Mail-Programm, behielten aber unsere Nicks bei. Sie fragte mich nie nach meinem richtigen Vornamen, also tat ich es auch nicht – das ist ebenfalls sehr ungewöhnlich bei solchen Internetflirts, wenn sie sich weiterentwickeln sollen. Nach einiger Zeit fragte ich endlich nach, wie es wohl mal mit einem Treffen aussähe, und sie antwortete: „Fürchten Sie denn nicht, damit Ihre Vorstellung von mir zu zerstören?“
Das deutete auf eine abstoßend hässliche Schabracke hin, die sich zwar gut auszudrücken verstand, sich aber in der Gesichtslosigkeit des Internets bewegte, weil in der Realität jeder sofort das Weite suchte, der mit ihr zu tun bekam. Ich konnte und wollte dies aber nicht glauben, dazu hatte sie meine Phantasie einfach schon zu stark angeheizt. Ich schrieb zurück: „Ich gedenke eigentlich, mit einer Begegnung meine Vorstellung von Ihnen zu vervollkommnen.“ Wir waren, auch das ist im Netz total unüblich, immer noch per Sie.
Ihre Antwort: „Eine vollkommene Vorstellung von jemandem zu haben – ist das denn so erstrebenswert? Und: Ergibt diese Formulierung überhaupt Sinn? Bedeutet denn, eine Vorstellung zu haben, nicht etwas Ungefähres, etwas nicht oder nicht hundertprozentig Erfassbares? Und wenn diese Vorstellung schön ist, warum soll man dann riskieren, sie durch das, was Sie Vervollkommnung nennen, zu zerstören?“ Das war bis dato einer der längsten Posts, die ich von ihr bekommen hatte. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf zurückphilosophieren sollte, also fragte ich so direkt, wie ich konnte, ohne unverschämt zu werden:
„Haben Sie denn so wenig Vertrauen in Ihre physische Präsenz?“
Zurück kam: „Das finde ich interessant: Sie schreiben von physischer Präsenz, nicht von optischer Erscheinung. Dabei wollen Sie doch eigentlich nur wissen, ob ich für Sie attraktiv genug bin. Sie verstehen es wirklich, sich auszudrücken. Soeben haben Sie ganz entscheidend gepunktet.“ Für ihre Verhältnisse ein weiterer halber Roman.
Ich schrieb: „Nun ja, nach meinem Verständnis schließt die physische Präsenz das rein optische Erscheinungsbild mit ein – das, was man mit hübsch oder hässlich bezeichnet. Die Optik ist jedoch nur ein Bestandteil dessen, was ich physische Präsenz nenne. Denn sie ist nicht alles. Zur physischen Präsenz kommt nämlich noch Ausstrahlung. Auch ein nach den objektiven Maßstäben für menschliche Schönheit nicht makelloser Mensch kann eine enorme Wirkung auf andere entfalten.“
Ich wollte damit eigentlich nur sagen: Auch wenn Du Dich nicht schön findest, tun’s andere vielleicht dennoch. Das soll es ja hin und wieder auch geben. Aber ehrlich gesagt, schwand sogar mir hoffnungslosem Träumer in diesen Sekunden jede Hoffnung, es hier mit einer wirklich begehrenswerten Frau zu tun zu haben. Wer so herumdruckste, der hatte etwas zu verbergen. Wahrscheinlich sich selbst.
„Und eben das glaube ich nicht“, antwortete sie. „Warum soll die optische Erscheinung, das oberflächlich Sichtbare also, ein wesentlicher Bestandteil der physischen Präsenz sein? Nimmt sie nicht viel mehr den Dingen ihr letztes Geheimnis? Haben Sie denn den Kleinen Prinzen nicht gelesen? Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Gestatten Sie mir, Sie zu überzeugen.“
Ich fragte, wie sie sich das denn nun vorstelle.
Daraufhin schlug sie ein Treffen vor. Allerdings in einem vollständig verdunkelten Raum.
Okay, ich hatte schon einmal von solchen Darkrooms gehört. Sie waren mir allerdings nur aus der Schwulenszene bekannt, mittlerweile mochte es sie auch in einigen ausgefallenen Swingerclubs geben. Soweit ich wusste, trafen sich in diesen Darkrooms zwei Menschen zum Sex, die anonym bleiben wollten, weil es ihnen so leichter fiel, ihre Phantasien auszuleben. Das verhieß also nichts Gutes.
Ich überlegte daher, den Kontakt an dieser Stelle einfach zu abzubrechen. Wie durchgeknallt war dieses Weib denn? Beziehungsweise wie arm dran?
Mit dem vermeintlich letzten Rest Neugier fragte ich: „Und dann?“
„Werden wir uns kennenlernen. Oder sagen wir lieber: Einander erfahren.“
„Was heißt das? Wir trinken im Dunkeln einen Kaffee und plaudern ein wenig?“
„Nein. Wir reden nicht, wir sehen uns nicht. Wir berühren uns nur.“
„Wir berühren uns nur? Wie denn?“
„Wie Sie wollen. Wir berühren uns mit den Fingern, den Lippen, der Zunge und was Ihnen sonst noch so einfällt.“
Mein Verstand sagte mir immer noch, dass mich unter diesen Vorzeichen doch eigentlich nur ein Alptraum erwarten konnte, doch meine Lust auf ein aufregendes Abenteuer wollte sich trotz aller offenkundigen Fallstricke einfach nicht besiegen lassen.
„Was ist, wenn ich irgendetwas ertaste oder fühle, was mir nicht behagt? Darf ich dann einfach gehen?“ Ich stellte mir vor, wie meine Hände über fettes, runzliges oder vielleicht sogar verbranntes oder faules Fleisch gleiten, mich Panik erfasst, Brechreiz übermannt, ich aus einem vollkommen nachtschwarzen Raum zu fliehen versuche, einen Türgriff ertaste, diesen drücke, die Tür aber abgeschlossen ist ...
„Selbstverständlich dürfen Sie gehen. Jederzeit.“
Darauf antwortete ich nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich zurückschreiben sollte: Ja oder nein? Etwa eine Stunde später schickte sie noch eine Mail.
„Münsterstraße 8. 19. Stock. Vom Lift aus den Gang hinunter, letzte Tür rechts. Morgen, 21 Uhr.“
Das war’s dann, und ich wusste nur zu gut, dass von nun an auch nichts mehr kommen sollte – egal, wie oft ich noch nachfragte. Dazu konnte ich „Meretseger“ mittlerweile gut genug einschätzen, doch was hieß das schon: „gut genug“, das würde bei ihr niemals „wirklich gut“ bedeuten. Sie hatte gerade genug Worte gesetzt, um mich so anzufeuern, dass ich die Nacht nicht schlafen konnte, meine Phantasie so angefixt, dass sie meinem Verstand bis in den Morgen gnadenlos zusetzte. Entsprechend angeschlagen startete der dann in den nächsten Tag.
Wer anders als Quasimodos Schwester persönlich konnte mich in diesem total abgedunkelten Raum erwarten?
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