Brägan musterte sie nachdenklich. „Du bist ihnen nicht willkommen. Sie halten dich für einen Spitzel des Feindes.“
Jo zog die Brauen zusammen. „Einen Spitzel?“
Brägan nickte, ohne ihr eine Erklärung zu geben.
„Glaubst du das auch?“
Seine Mundwinkel zuckten. „Du hast ein Feuer am Wachturm von Aderyn entzündet.“
„Na und?“ Sie stellte den leeren Becher auf den Boden.
„Der Turm wird nur vom Feind benutzt.“
Sie musterte ihn ungläubig. „Mir war kalt!” Sie hatte lauter als beabsichtigt gesprochen und senkte die Stimme. „Ich weiß ja nicht einmal, wer euer Feind ist.“
Brägan zog ihr Messer aus seinem Gürtel und drehte es in seinen kräftigen Händen. „Und du trägst eine Waffe.“
Jo stöhnte innerlich. „Natürlich trage ich eine Waffe. Du würdest auch nicht unbewaffnet in eine fremde Welt reisen.“
Er steckte das Messer lächelnd wieder in seinen Gürtel zurück.
„Nun, Jo aus den fremden Landen, sage mir, wie ihr nach Thuroth gelangt seid und welches eure Absichten sind.“ Eine hellgraue Strähne hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und fiel ihm ins Gesicht. Er schob sie hinter das Ohr und sah sie streng an.
Jo blinzelte und schaute ins Feuer. Brägans graue Augen beunruhigten sie. Er mochte erst Mitte zwanzig sein, doch seine Augen wirkten wie die eines alten Mannes, der schon viel gesehen hatte. „Können wir nicht zuerst überlegen, wie wir meinen Bruder retten können?“
„Nein.“
Sie fröstelte trotz der warmen Luft in der Höhle. „Ein Reiseamulett hat meinen Bruder, unsere Freunde Luc und Manù und mich hierhergebracht. Es gehörte einem Mann namens Mexx. Kennst du ihn?“
Brägan hob die Augenbrauen. „So ist denn ein Magier unter euch.“
Jo runzelte die Stirn. Was meinte er damit? Brägan sah sie an, als überlege er, ob sie ihm etwas verheimlichen wollte. Dann schien er einzusehen, dass sie nicht wusste, wovon er sprach. „Ein Reiseamulett bringt dich nur an den gewünschten Ort, wenn ein Magier den Reisezauber wirkt. Wusstest du das nicht?“
Verwundert senkte Jo den Kopf. Nein, das hatte sie nicht gewusst. War Manù eine Magierin? Warum hatte sie ihnen das vor der Reise nicht erzählt? Ein ungutes Gefühl bildete sich in ihrem Magen. Vielleicht hatte Manù eigene Gründe für die Reise nach Thuroth. Was wusste Jo schon von ihr?
„Nun?“ Brägans Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an.
Sie sah ihm fest in die Augen, auch wenn es ihr schwerfiel, und bemühte sich, überzeugend zu klingen. „Mein Bruder und Luc sind keine Magier, und ich auch nicht, wie du sicher schon bemerkt hast. Manù jedoch ... sie verdient in unserer Welt ihr Geld mit Wahrsagerei und begleitet uns, weil sie behauptet, über besondere Fähigkeiten zu verfügen, die uns helfen können. Ich kann dir nicht sagen, ob sie eine Magierin ist. Ich weiß nicht, was einen Magier ausmacht. Außerdem kenne ich sie selbst erst seit einer Woche.“
Brägan kniff die Augen zusammen und betrachtete sie aufmerksam, sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Würde er ihr glauben? So viel hing davon ab.
„Wie kommt ihr an das Amulett von Mexx?“
„Das ist eine lange Geschichte“, begann Jo und erzählte ihm, was ihr seit dem Fund des Buches in der Höhle widerfahren war. „Mexx muss den Fluch aufheben, sonst werde ich sterben.“ Sie zog das Buch aus dem neben dem Feuer liegenden Rucksack und reichte es ihm.
Brägan nahm ihr das Buch aus der Hand und betrachtete es. Er schlug es nicht auf. Dann flüsterte er etwas und sah zu Korbinian auf, der neben ihn getreten war und einen prüfenden Blick auf den Einband warf. Er nickte mit ernster Miene.
„Mexx kann den Fluch nicht aufheben“, sagte Brägan leise. Er wirkte auf einmal bekümmert. „Das kann nur der Magier tun, der ihn ausgesprochen hat. Mexx ist kein Magier, er ist der Fürst von Thuroth.“
Jo blinzelte verwirrt. Mexx lebte noch, doch er konnte ihr nicht helfen? „Aber ich weiß nicht, welcher Magier ...“, hob Jo an.
„Ich weiß es“, fiel Brägan ihr ins Wort und gab ihr das Buch zurück. Jo sah ihn erwartungsvoll an, ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Doch es wird dir nichts nutzen.“
„Das verstehe ich nicht“, murmelte sie.
„Es handelt sich um Morfan, den Berater des Fürsten.“ Bitterkeit hatte sich in seine Stimme geschlichen und Jo bemerkte den mitfühlenden Blick, den Korbinian ihm zuwarf. „Er hat das Buch für Mexx verflucht. Jeder, der es liest, muss sterben. Er hat oft davon erzählt.“
Wie betäubt lauschte Jo seinen Worten. „Jeder, der es liest, muss sterben“, wiederholte sie leise.
Brägan nickte. „Es sei denn, der Fluch wird zurückgenommen.“
Sie sah zu ihm. „Wo kann ich Morfan finden?“
„Gar nicht.“
Sie war überrascht über die plötzliche Schärfe in Brägans Stimme und musterte ihn. Seine Stirn war in Falten gelegt und seine Kiefermuskeln traten vor Anspannung hervor. Sie war verunsichert.
„Wieso nicht?“
Er erhob sich. „Er wird dir nicht helfen.“
Was sollte das heißen? Sie sprang auf und hielt ihn am Arm fest. „Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es, Jo.“
Er schob ihren Arm zur Seite, drehte sich um und ließ sie stehen. Die Freude darüber, sich mit ihm verständigen zu können, war einer tiefen Verärgerung gewichen. Wieso war er so sicher, dass Morfan nichts für sie tun würde? Sie sah Hilfe suchend zu Korbinian, der ihr eine Hand auf die Schulter legte und sie aus seinen listigen Augen eindringlich ansah.
„Weißt du, was das Böse ist, Jo?“ Sein Französisch war kaum zu verstehen. Sie schüttelte den Kopf. „Morfan ist das Böse!“ Er nickte ihr bedeutungsvoll zu und begab sich in die Mitte der Höhle, wo sich eine Menschenmenge um Brägan und einen jungen Mann mit Hakennase gebildet hatte.
Jo wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Brägan und Korbinian schienen keine gute Meinung von Morfan zu haben, doch was hatte sie mit den Ansichten der beiden zu tun? Wenn nur der Magier den Fluch aufheben konnte, der ihn ausgesprochen hatte, blieb ihr keine andere Wahl, als Morfan aufzusuchen. Doch es gab jetzt Dringenderes. Was würde Brägan für Motz tun? Sie wollte gerade auf ihn zugehen, um ihn danach zu fragen, als sie sah, wie er vier Männer zu sich rief und ihnen Anweisungen gab, woraufhin sie Mäntel, Schwerter und Bogen ergriffen und mit zwei Flughunden die Höhle verließen. Brägan drehte sich zu ihr.
„Sie werden nach deinem Bruder suchen.“
Jo seufzte vor Erleichterung und stieß den Ärger über Brägans vorheriges Verhalten zur Seite. „Danke.“ Sie zögerte. „Sind die Myrk sehr gefährlich?“
„Ja, ihre Schnabelhiebe verursachen fürchterliche Verletzungen und sind in der Regel tödlich. Es besteht nur wenig Hoffnung.“
Er wird sterben , wimmerte die Stimme in ihrem Kopf und Jo fühlte ihre Angst. Sie dachte an den Teil des Flügels, den sie gesehen hatte. „Wie groß sind diese Vögel?“
„Sie sind nur wenig kleiner als Flyre.“ Er zeigte auf die Riesenflughunde im hinteren Teil der Höhle. „Wende dich an Ceridwen, wenn du etwas benötigst.“ Er nickte der jungen Frau zu, die Jo bei ihrer Ankunft das Getränk gereicht hatte, und wandte sich ab.
„Was ist mit Luc und Manù?“, rief Jo ihm hinterher.
„Eine Suche nach ihnen würde meine Männer in Gefahr bringen. Ich kann nichts für sie tun.“
Ernüchtert sah Jo ihm nach. Hoffentlich hatten Luc und Manù bereits Hilfe gefunden. Ceridwen reichte ihr wortlos einen Teller mit dampfendem, scharf riechendem Gemüse und wandte den Blick ab. Ihr Unbehagen war greifbar. Sie hält mich wohl auch für einen Spitzel, dachte Jo, setzte sich wieder auf den warmen Höhlenboden und rührte lustlos in der Speise. Tödliche Schnabelhiebe . Sie holte tief Luft und verdrängte die Vorstellung, was die Vögel Motz in der Zwischenzeit angetan haben konnten. Der Gedanke, ihn nicht wiederzusehen, war unwirklich und kalt. Würde sie sich alleine auf die Suche nach Morfan machen müssen? Alleine, raunte die Stimme in ihrem Kopf und zum ersten Mal fühlte Jo bei diesem Wort einen Hauch von Angst.
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