Er überlegte fieberhaft, wie er sich verhalten sollte. Er würde Brägan niemals verraten, andererseits konnte er nicht tatenlos zusehen, wie sein Bruder versuchte, ihren Vater zu vernichten. Er musste ihm diesen Plan ausreden. Und was sollte er seinem Vater über das Feuer im Wachturm berichten? Er konnte ihm nicht die Wahrheit sagen, ohne seinen Bruder in Schwierigkeiten zu bringen. Er zog Zettel und Feder aus seinem Umhang und schrieb, dass er beim Wachturm nichts entdeckt habe und die Suche in der Umgebung fortsetze. Das würde seinen Vater zunächst zufriedenstellen. Er pfiff und kurz darauf setzte sich eine Kurierlibelle auf seinen Arm. Hefeyd befestigte den Zettel an den Bauchfühlern und flüsterte dem Tierchen Morfans Namen und die Worte nicht eilig zu, woraufhin es abhob und gemächlich davonflog.
Er wandte sich zu Niall um und strich ihm über die samtige Schnauze. „Wir müssen Brägans Versteck finden.“
Niall spreizte die Flügel und ließ sie leicht flattern. „Wir können ihm nicht folgen. Er fliegt unter Verbergungszauber.”
„Ich weiß. Doch du kennst diese Berge seit vielen Wintern. Wo würdest du suchen?“
„Dieses Gebirge ist so alt wie die Zeit auf den Inseln. Als alles begann, lebten die Drachen hier und man erzählt sich, dass der Vulkan von einem Labyrinth ihrer Gänge und Höhlen durchzogen ist. Später sind sie noch einmal von Dùn Draigh nach Thuroth zurückgekehrt. Ich vermute, dass sich Brägans Versteck in einer ihrer Höhlen befindet.“
Hefeyd legte die Stirn in Falten. „Aber der Vulkan steht kurz vor dem Ausbruch!“
Der Flyr nickte. „Genau aus diesem Grund wird dort niemand nach ihm suchen.“
„Das ist ein guter Rat, Niall. Trage mich auf deinen Schwingen zum Mil.“ Er stieg auf. „Coprirum!“ Ein leichter Schleier legte sich um den Flyr und ihn und verbarg sie vor der Welt. Hefeyd legte keinen Wert darauf, von Morfans Spähern erkannt zu werden.
Einige Flügelschläge später schwebten sie bereits aus der Schlucht hinaus in Richtung Westen.
„Als der Fürst im Nordwesten der Insel einen Hafen anlegen wollte, traf er auf die dort noch lebenden Steinmagier. Erzürnt über die Zerstörung ihrer Heimat, töteten sie die Arbeiter des Fürsten. Korek musste sich etwas einfallen lassen. Doch er war ein kluger Magier und wusste um die Wirkung der Musik.“
Nuadas Erinnerungen
Festgehalten von Màdo
Vierhundert Winter nach Armor
Nachdem Brägan Jo von Nuada heruntergeholfen hatte, wandte er sich ab und eilte auf die Kraterwand zu, die sich drohend über ihnen in die Höhe reckte. Jo folgte ihm schwankend, ihre Beine fühlten sich taub an und wollten ihr nicht gehorchen. Korbinian ergriff ihren Arm und schob sie zwischen den den Boden bedeckenden Felsbrocken auf die Felswand zu. Aus gewaltigen Spalten in der Kratermitte stieg heller Rauch auf und wirbelte durch die erneut dicht fallenden Schneeflocken. Der Alte führte sie durch eine Öffnung im Fels in einen von Fackeln beleuchteten Gang, der sich weit in den Berg hineinzog, bevor er in eine gewaltige Höhle mündete, deren Wände im Schein der Feuer matt schimmerten.
Jo hielt inne und starrte verwundert in das Zwielicht. Hunderte von Menschen bevölkerten das Gewölbe und füllten es mit lautem Stimmengewirr. Männer, Frauen und Kinder standen in Gruppen zusammen oder saßen auf Decken und Fellen an den Feuern, über denen dampfende Kessel hingen. Ein schwerer süßer Geruch hing in der warmen Luft. Was machten all diese Menschen hier? Waren sie geflohen und hielten sich hier versteckt? Es musste einen guten Grund geben, warum sie sich in die unwirtlichen Berge zurückgezogen hatten. Jo sah sich um, in der Hoffnung, Motz zu entdecken, doch sie ahnte, dass er nicht hier war.
Je weiter Korbinian sie in die Höhle hineinführte, desto stiller wurde es. Misstrauische Augen musterten sie unfreundlich. Jo hielt den Blicken stand und starrte zurück, obwohl die Furcht um ihre Beine strich. Die Gesichter der Menschen waren verhärmt und zeugten von Trauer, großem Leid und Entschlossenheit. Einige trugen Narben, andere frische Wunden. Haut, Haare und Kleidung waren grau. Aus einer Gruppe lösten sich drei Männer und versperrten ihnen den Weg. Einer von ihnen zeigte auf sie und zischte ihr etwas zu, das sie nicht verstand. Jo konnte seinen Hass fühlen und blickte sich Hilfe suchend zu Korbinian um. Der Alte machte eine Handbewegung und die Männer wichen zurück wie von einer unsichtbaren Kraft gedrängt. Sie warfen Jo einen finsteren Blick zu, als Korbinian sie weiter in das Innere der Höhle schob.
Immer mehr Menschen näherten sich und bildeten einen Kreis um Jo und den Alten. Ihre kalten Blicke trafen Jo wie Nadelstiche. Wieso verhielten sie sich so feindselig? In diesem Moment trat Brägan neben sie. Nur zwei Worte sagte er, doch die Menschen stoben auseinander mit Achtung im Blick. War er ihr Anführer? Er führte Jo aus dem Kreis heraus an ein Feuer im hinteren Teil der Höhle, wo eine junge Frau ihr einen steinernen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit reichte.
Jo nippte daran und genoss den kräftigen süßen Geschmack des Weins, wohlige Wärme füllte ihren Magen. Schreie aus dem hinteren Teil der Höhle ließen sie herumfahren. Männer in Lederrüstungen kämpften dort mit Schwertern und Äxten, Pfeile sirrten von gespannten großen Bögen auf Zielscheiben an der Felswand. Was geschah hier?
„Jo!“ Brägans Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie drehte sich zu ihm. Er machte ihr ein Zeichen, neben ihm Platz zu nehmen. Er hatte den Umhang abgelegt und die Verzierungen des breiten Ledergürtels, den er über seiner Tunika trug, schimmerten gülden im Licht des Feuers. Seine grauen Augen musterten sie lange.
„Kommst du aus Frankreich?“
Jo riss die Augen auf und hätte vor Überraschung beinahe den Becher fallen lassen. Sie nickte. „Ja. Wie kommt es, dass du meine Sprache sprichst?“
Die Andeutung eines bitteren Lächelns huschte über Brägans Gesicht. „Meine Eltern waren in deiner Heimat, vor langer Zeit.“
Nun, wo sie sich verständlich machen konnte, verspürte sie eine große Erleichterung, auch wenn sie noch nicht wusste, was Brägan mit ihr vorhatte. Sie empfand keine Furcht vor ihm, doch sie fühlte die Kraft, die von ihm ausging. Er starrte in die Flammen und schien sie vergessen zu haben. Das Feuer zischte, als die junge Frau neben ihnen kleine Kugeln einer klebrigen Masse hineinwarf. Ein starker Zimtgeruch stieg Jo in die Nase.
„Bin ich hier auf Thuroth?“ Diese Frage brannte ihr seit ihrer Ankunft auf der Seele.
Brägan nickte. „Ja, du bist auf Thuroth.“
Wenn er sich wunderte, wieso sie nicht wusste, wo sie war, zeigte er es nicht. Jo seufzte leise. Einerseits war sie erleichtert, dass das Reiseamulett sie tatsächlich zum Ziel geführt hatte, andererseits begann sie zu ahnen, dass sie sich auf etwas eingelassen hatte, das weit jenseits ihrer Vorstellungskraft lag.
„Mein Bruder, ist er auch hier?“
Brägan schüttelte den Kopf. „Nein. Wie ist er verschwunden?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe nur den Teil eines Flügels über dem Abgrund gesehen.“
„Glich er Nuadas Schwinge?“
„Nein, er trug Stacheln.“
Brägan seufzte. „Das, was du gesehen hast, war der Flügel eines Myrk, eines großen Raubvogels. Er wird deinen Bruder zu einem der Horste auf den Berggipfeln gebracht haben.“
Ein Mann trat ans Feuer. Er trug eine gepolsterte lederne Weste und an seinem Gürtel hingen eine Schwertscheide und zwei Dolche. Er zeigte auf Jo und richtete leise Worte an Brägan, der ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. Der Mann warf Jo einen unfreundlichen Blick zu und zog sich zurück.
Sie sah ihm nach. „Was haben die Menschen hier gegen mich? Warum sind sie so feindselig?“
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