»Du musstest also von deiner Schule? Welche Klasse gehst du?«
»Siebte.«
»Ich denke, so ein Neustart hat auch was für sich. Vor allem hat man in einem Internat sicher mehr Freiheiten als zuhause. Schade, dass Levi nicht da ist. Der wohnt auch hier und war im Internat. Dem gefiel’s gut da.«
»Aber sicher nicht auf einer reinen Mädchenschule, das wird voll ätzend.«
»An einer Mädchenschule hätte es ihm sicher gefallen, aber soweit ich weiß, waren da nur Jungs in seiner Klasse. Ob es auch Mädchen an seiner Schule gab, weiß ich gar nicht.«
Trish hatte sich wieder dem Videospiel zugewandt. Für sie schien die Unterhaltung beendet. Paul erhob sich zum Gehen.
»Wenn Marc kommt, sag ihm, ich bin auf dem Dachboden. Er will, dass ich euch fahre.«
Trish nickte nur.
Marc hatte Leonie zwischenzeitlich eine Auswahl seiner Fotoarbeiten gezeigt und mit ihr einen Praktikumsplan erstellt, der sich an den Schwerpunkten des Hauptseminars orientierte. Er wirkte bemüht unverbindlich, doch gleichzeitig hielt er eine Stunde pro Woche für zu wenig und bot Leonie an, ihm auch unabhängig von den Seminarschwerpunkten bei seinen Aufträgen zu assistieren. Um etwas über den Tellerrand hinaus zu lernen, wie er es nannte. Leonie war sich sicher, dass es Marc dabei weniger um ihre Ausbildung ging, dennoch zeigte sie sich einsichtig und verabredete sich für zwei Nachmittage pro Woche.
»Beim nächsten Date zeige ich dir meine Dunkelkammer«, schloss Marc seine kleine Ateliersführung.
»Wir hatten ein Date? Heute? Hier?«, schmunzelte Leonie, und Marc wirkte verunsichert.
»Ok, Geschäftstermin trifft es eher, doch was nicht ist, kann ja noch werden. Zum Beispiel ein Arbeitsessen bei guter Führung?«
»Na dann hoffen wir mal, dass ich mich gut führe und noch besser geführt werde.«
Gemeinsam suchten sie nach Beendigung der Ateliersführung Paul auf dem Dachboden, und Leonie war froh, dass dieser nicht bereits nackt auf seiner Papierbahn lag und sich in Farbe wälzte. Irgendwie schwante ihr, dass Paul die Aufgabe gründlich missverstanden hatte. Kurz darauf verabschiedete sich Leonie und versprach Paul, ihm die nächsten Tage bei dem gemeinsamen Uniprojekt zu helfen. Dieser nickte nur, hatte ihn doch der Wangenkuss, den Leonie Marc zum Abschied gab, irritiert.
Spike, eine Überdosis , stand in Großbuchstaben über dem Eingang zur Gardarobe. Nina zog sich gerade um, als ihr Handy klingelte, Emily war dran.
»Was willst du denn?«
»Na was wohl? Mutter fragt, ob du zu Vaters Geburtstag heim kommst?«
»Sag ihr, ich würde mir lieber die Weisheitszähne ziehen lassen, als auf dieses öde Fest zu gehen.«
»Nichts anderes habe ich von dir erwartet.«
»Sei doch froh, kannst dann alleine Papis Liebling spielen.«
»Ich zumindest lass mir kein Studium bezahlen.«
»Ach, daher weht der Wind. Keiner hat dich gezwungen, eine Lehre zu machen und aufs Studium zu verzichten. Vater wird sehr stolz auf dich sein.«
»Ich denke nicht, dass ihn meine Ausbildung stört, eher, dass sein Nesthäkchen nicht mal Danke für den monatlichen Scheck sagt.«
»Ich habe ihn nicht darum gebeten. Für meine Miete komme ich eh selber auf, und seine übrigen Almosen kann er sich meinetwegen in den Arsch stecken.«
»Schöne Idee, ihm das doch gleich auf seiner Party mitzuteilen. Kann ich Mutter also sagen, du kommst auch? Bring Blumen mit.«
»Leck mich.«
»Aber gern, Schätzchen.«
Damit legte Emily auf. Nina klappte ihr Handy wütend zu und warf es in ihre Tasche. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Aber ihr blieb keine Zeit, lang über den Anruf nachzudenken, die Theatergruppe war fast vollständig auf der Bühne versammelt, und der Regisseur rief nach ihr.
Es war die erste Probe. Normalerweise setzte sich die Crew vor der neuen Saison zusammen und ging das Textbuch durch, überlegte, wer für welche Rolle in Frage kam und diskutierte Bühnenbild und Kostüme. Heute war es etwas anders. Der Regisseur hatte die wichtigsten Rollen schon besetzt und jedem der Crew ein Textbuch zugesandt. Nina fiel die Rolle der schwangeren Freundin des Hauptdarstellers zu. Es würde eine Menge Text sein, weit mehr als in früheren Rollen. Und sie müsste in fast jedem Akt auftreten, das war Stress pur. Dennoch freute sie sich, schien doch der Regisseur einiges von ihrem Schauspiel zu halten.
»Nina, komm und setz dich, wir haben einen engen Zeitplan und müssen heute über das Skript sprechen«, forderte dieser sie auf, als Nina das Theater betrat.
Sie waren zu acht, zwei weniger als beim letzten Stück.
»Wo sind Mika und Niels?«, fragte irgendwer aus der Runde.
»Ihr Semester ist vorüber, und sie sind zurück nach Stockholm. Doch für das neue Stück genügt die Runde hier«, antwortete der Regisseur.
Nina überflog ein weiteres Mal die ersten Zeilen ihres Textes. Sie hatte gleich die Eröffnung, in der sie von ihrem verstorbenen Freund erzählte, einem Junkie, der sich zu Tode gespritzt hatte. Eine Milieustudie, die überwiegend aus Rückblenden bestand.
»Sind all diese Ausdrücke wirklich nötig? So spricht doch keiner?«
»Schätzchen, das genau ist Sinn und Zweck deiner Rolle. Du bist assi, nein deine ganze Clique ist assi. Da erwartet keiner gepflegtes Deutsch und eine geistreiche Unterhaltung. Du bist schrill, du bist laut, und du bist ein Proll, genieße es.«
Wenn mich heute noch einer Schätzchen nennt, kann der mich kennen lernen, dachte Nina, ohne ihrem Regisseur genau zugehört zu haben. Sie nickte mechanisch und vertiefte sich weiter in ihren Text.
Es war eine laute, derbe Sprache, die das Stück bestimmte. Eine Welt, die ihr fremd war, und die sie mied. Sich jetzt auf eine solche Rolle einzulassen, war in der Tat eine Herausforderung, eine Grenzerfahrung oder Konfrontationstherapie, wie ihr Psychologieprofessor sagen würde. Aber war sie bereit, über ihren Schatten zu springen? Diese Frage hatte sie sich die letzten Tage mehrfach gestellt, immer, wenn sie ihr Mobiltelefon benutzte und an Paul erinnert wurde, an einen Mann, dem es ebenfalls widerstreben würde, in jedem dritten Satz ficken , Fotze oder Schwanz zu sagen.
Sie hatte mehrfach angesetzt, ihn anzurufen, ihm zu schreiben, an ihn zu denken und sich jedes Mal zur Ordnung gerufen. Doch welche Ordnung war das, wenn sie diese Dialoge las und ihre Welt, ihre Werte und Art zu leben zurücklassen sollte, und sei es nur für die zwei Stunden, die das Stück dauerte. Konnte sie dann wochenlang den Mann ignorieren, der sie berührt hatte, dem sie gefiel und in den sie sich vor wenigen Tagen noch fast verliebt hätte?
Doch der Regisseur riss sie abermals aus ihren Gedanken, es galt eine Dramaturgie zu entwerfen, das Bühnenbild zu besprechen und Texte zu kürzen. Die Crew hatte mit den Proben begonnen, die Uhr tickte, und die Premiere war terminiert. Ob Paul käme, sich das Stück anzusehen?
Als sie nach der Probe zum Verabschieden noch kurz im Veranstaltungsbüro vorbei sah, traf sie dort Nelli, die Freundin des Regisseurs.
»Nina, grüß dich. Na wie waren die Proben? Ist am Anfang immer ein riesen Berg, oder?«
»Ich habe Probleme mit dem Stück oder besser mit meiner Rolle Es wird schwer, sich mit dieser Frau, die ich spielen soll, zu identifizieren. Aber sonst war alles ok. Grüß deinen Schatz und bis bald.«
»Oh, danke gleichfalls, sag ihm auch einen schönen Gruß, leider weiß ich seinen Namen nicht.«
Nina drehte sich verwundert um. »Wem? Welchen Namen?«
»Na deinem Freund«, lachte Nelli.
»Meinem Freund? Das wüsste ich aber?«
»Zumindest war vor ein paar Tagen ein Typ hier, der nach dir fragte und meinte, er sei ein Freund von dir und wollte bei den Proben zuschauen. Doch so verlegen, wie der wirkte, klang das nach mehr als nur Freundschaft. Sorry, wenn ich da was missverstanden habe.«
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