Mein Gott, was ist denn jetzt schon wieder, dachte sie im Halbschlaf. Steht das Haus in Flammen, ist die Katze fort oder liegt Franz im Sterben? Kein Grund, sie mitten in der Nacht aus dem Bett zu werfen.
Müde kam sie einige Minuten später noch im Nachthemd die Treppe zum Dachgeschoss herunter, ging grußlos an ihrer Mutter vorüber, nickte Franz kurz zu und setzte sich an den noch gedeckten Frühstückstisch.
»Zieh dir bitte etwas an die Füße. Kaffee ist in der Thermoskanne.«
»Wo auch sonst«, maulte Leonie schlechtgelaunt und bedauerte, dass es Sonntag und ihre Mutter um diese Zeit noch im Haus war.
»Wir müssten kurz wegen der Dachluke in dein Zimmer. Ist das ok?«
»Ja, aber sag dem Typen in meinem Bett, dass die Brötchen fertig sind und der Kaffee kalt wird.«
»Du hast Besuch? Wieso bringst du den jungen Mann nicht mit zum Frühstück?«
»Das war ein Spaß, da ist niemand und ja, ihr könnt in mein Zimmer, wenn ich nur endlich in Ruhe frühstücken dürfte.«
Hanna zuckte mit den Schultern, sah Franz resigniert an und mühte sich langsam die Treppe zum Dachzimmer hinauf. Sie hatte starke Schmerzen in den Knien und ahnte den nahenden Herbst.
Levi musste noch den ganzen Nachmittag über das Treffen mit Niklas, dessen Abrechnungsprobleme und die Idee der eigenen Firma nachdenken. Es klang nach einer Menge Arbeit, aber auch einer Chance.
Allem voran die Genugtuung, im Erfolgsfall seinem Vater beweisen zu können, dass er zu mehr fähig war, als sich nur ins gemachte Nest zu setzen. Wenn Niklas Recht hatte und das Modell funktionierte, könnten sie ein zweites Standbein neben der Familienfirma aufbauen und wären unabhängiger, falls Vater sich weigern würde, die Leitung abzugeben.
Wie oft hatte ihn Rebecca gedrängt, sich nicht von seinem Vater einkaufen zu lassen, sich auf seine eigenen Beine zu stellen und mehr aus seinem Leben zu machen, als nur Sohn zu sein. Ihr würde der Plan gefallen, wohl auch, weil sie es genoss, an seiner Seite finanziell unabhängig zu sein. Doch das hatte ihn nie gestört.
Störte es ihn, dass sie jetzt nicht da war, um zu sehen, dass er ihren Rat befolgte? Sie wäre stolz. Wie gern hätte er ihr davon erzählt. In letzter Zeit hatte er immer öfter an Beca denken müssen, denn trotz aller Streitereien war sie es, die ihn gelehrt hatte, frei zu sein, sich nicht immer schuldig gegenüber seinem Vater zu fühlen und auch einzugestehen, nicht perfekt zu sein. Diese Last war seit der Trennung zurückgekehrt und wog schwer auf Levis Schultern.
Später wusste er nicht mehr, ob es an dem halben Kasten Bier gelegen hatte, den er seit Niklas Weggang getrunken hatte, oder an dem Wunsch, Rebecca wiederzusehen. Zumindest hörte er sich auf ihren Anrufbeantworter sprechen, irgendetwas von einem Plan, für sie zu sorgen, seinem Vater keine Macht mehr über ihn zu geben und sie zu vermissen.
Rebecca saß währenddessen vor dem Anrufbeantworter und fragte sich, was zum Teufel in diesen Idioten gefahren war.
Irgendetwas hatte sie geweckt. Es war dunkel in ihrem Zimmer, die Gardinen bewegten sich leicht vor dem geöffneten Fenster, während aus dem Flur Stimmen zu ihr drangen.
»Mama?«
Keiner antwortete, und sie zog sich die Decke bis über die Nase, am liebsten hätte sie sich ganz unter dieser versteckt, doch irgendetwas trieb sie dazu, die Decke wegzuschieben, aufzustehen und ins spärlich beleuchtete Wohnzimmer zu gehen. Weder wusste sie, wie spät es war, noch was all die fremden Menschen in der Wohnung ihrer Eltern suchten. Überall lagen, saßen oder standen Männer und Frauen, die einen eng umschlungen, manche dabei nackt, andere mit offenen Augen und leerem Blick. Wieder andere schienen zu schlafen, dritte tuschelten leise und lachten, aber keiner bemerkte das Mädchen, das barfuss und nur mit einem Nachthemdchen bekleidet in der Tür stand und ängstlich nach ihren Eltern Ausschau hielt.
»Mama?«
Ihr war kalt. Es roch komisch, rauchig und süß. Überall standen Flaschen und leere Gläser herum. Im Gästezimmer lagen zwei, er stöhnte. Es war ihr Vater. Erleichtert lief sie zu den beiden und berührte ihre Mutter an der Schulter. Eine unbekannte Frau drehte sich zu ihr um, lachte sie an und schloss die Augen, während ihr Vater auf ihr lag und sich bewegte.
»Papa?«
»Geh in dein Bett, mein Herz.«
»Papa, wo ist Mama?«
»Sie kommt gleich, geh schlafen Kleine.«
Unsicher und besorgt, wer die fremde Frau bei ihren Vater war und wieso ihre Mutter sie allein gelassen hatte, ging sie zurück ins Wohnzimmer und zupfte einen Mann, der im Sessel schlief, an dessen T-Shirt. Beim dritten Mal bewegte er sich und öffnete langsam die Augen, gähnte und sah sie verwundert an.
»Weißt du, wo meine Mama ist?«
»Wer ist denn deine Mama? Und was machst du hier, Süße?«
»Ich wohne hier zusammen mit Mama und Papa.«
»Dann wird deine Mutter nicht weit sein, setz dich zu mir, und wir warten gemeinsam auf sie.«
Dabei hob er sie auf seinen Schoß. Erst jetzt bemerkte sie, dass er außer einem T-Shirt unbekleidet war. Sie fror und sah sich angstvoll nach ihrer Mutter um.
»Ist dir kalt meine Kleine?«, fragte der fremde Mann mit einer tiefen ruhigen Stimme, seine Haare am Bein kitzelten sie, und sie nickte. Da nahm er eine neben dem Sessel liegende Decke und hüllte das auf seinem Schoß sitzende Kind damit ein, legte seine Arme um sie und blies ihr sanft in den Nacken.
»Fürchte dich nicht, ich werde ganz sanft sein.«
Mit einem Schrei fuhr Rebecca in ihrem Bett hoch, den süßlichen Geruch des Zimmers noch immer in der Nase, das Telefon klingelte. Wo war sie?
Mühsam versuchte sie sich auf ihren Armen abzustützen, sie fühlten sich taub an, und ein stechender Schmerz drang aus ihrem Unterleib in ihr Bewusstsein. Das Telefon klingelte noch immer, irgendwo weit weg, es war Montag, sie lag in ihrem Bett, und die Schatten der Nacht verschwanden langsam.
»Rebecca Kant.«
»Da sind Sie ja endlich. Stichlin hier, Sekretariat von Dr. Bierfang, Polizeipräsidium. Ich sollte sie anrufen.«
Rebecca musste sich sammeln, Dr. Bierfang, Alexanders Vater, das Essen, der Job. Ja jetzt erinnerte sie sich und schloss kurz die Augen, bevor sie antwortete:
»Guten Morgen, was will Herr Bierfang?«
»Herr Dr. Bierfang wünscht, dass Sie zum Ersten des nächsten Monats hier anfangen. Sie wüssten Bescheid.«
Die Stimme am anderen Ende des Telefons schien meilenweit entfernt und erinnerte Rebecca an eine Maschine. Der Anrufbeantworter ruft mich an, dachte sie und musste lachen.
»Was gibt es da zu lachen? Bringen Sie Ihre Lohnsteuerkarte und Sozialversicherungsausweis mit, um halb Neun erwartet Sie der Herr Präsident in seinem Büro. Ich wundere mich nur, dass ich keinerlei Personalunterlagen von Ihnen vorliegen habe, vielleicht können Sie diese freundlicherweise ebenfalls mitbringen.«
Letzteres schien nicht als Frage gemeint zu sein.
»Ich denke, Ihr Chef hat alles, was er von mir benötigt. Ich werde am ersten Oktober halb Neun im Büro sein. Richten Sie ihm einen schönen Gruß aus.«
Damit legte sie auf.
Paul nahm Leonie mit auf den Dachboden. Dort hatte er eine lange Papierbahn ausgebreitet, zahlreiche Farbeimer standen ebenso wie Bilderrahmen, Leinwände und anderes Zeichenutensil herum. Fertige Bilder lagen kreuz und quer verteilt, manche standen auf dem Kopf, andere wieder waren abgehangen. Auf einer Staffelei sah sie ein halbfertiges Portrait.
»Ist sie das?«
Leonie ging näher an das zum Teil noch skizzierte Bild heran.
»Wer?«
»Na der Grund, dass dein Leben nur ganz ok ist?«, schmunzelte sie.
»Das ist irgendwer, keine Ahnung, nur ein Gesicht, eine Studie, nichts, was eine Bedeutung hat, und höre auf, mich auszufragen.«
Читать дальше