Die Medusa hat die besondere Eigenschaft die, die sie direkt ansehen zu Stein zu erstarren. Da ich nun im Nachhinein weiß, dass in meinem Fall genau dieses eintrat, die Erstarrung der Bewegungsfunktionen, finde ich noch heute die Figur der Medusa als Personifizierung meiner Erkrankung sehr passend. Auch ist das was mich betraf, meist Frauen zuteil. Somit passte eine weibliche Figur ebenfalls perfekt und sehr passend in meine Suche nach einer Figur. Ganz zu Beginn wollte ich es nicht wahrhaben und sah weg, und dies mag in Gegenwart der Medusa ein kluges Vorgehen sein, aber dieses Weggucken und nicht wahrhaben wollen wuchs sich über die Jahre zu einem schieben und ducken – die Psychologen sprechen hierbei von dysfunktionalen Bewältigungsstrategie – aus. Diese bewegt sich auf dem Niveau eines „ficht vor flicht“ und im Extremfall zu einem Erstarren aus psychischer Sicht. Im Grunde sind dies sehr primitive Muster der Antwort auf eine bedrohliche Situation. Bei mir führte dies – und ich hatte mich über dreizehn Jahre an diesen Zustand gewöhnt – zu oft merkwürdigen Verhaltensmustern, jedoch meist nicht in der Öffentlichkeit. Letztendlich jedoch ist dieser Zustand extrem energieaufwendig, denn meines stets darum bemüht sein Zustand zu verbergen, und zwang mich dazu verschwenderisch mit meinen Energien umgehen zu müssen. Ich war immer darum bemüht ein positives und gefälliges Bild nach außen hin zu präsentieren während mein Inneres nur eine Ruine war. Letzteres stimme immer schwerer und spätestens mit dem Zeitpunkt des wieder arbeiten gehen Wollens rächte sich. Denn ich hatte, wie das Sprichwort sagt, den Bogen weit überspannt.
Ich wollte es schlicht nicht wahrhaben und die ersten Jahre fuhr ich gut damit es zu ignorieren. Dann nahm die „Versteinerung“ konkrete Formen an. Versteinerung meint hier eine Unfähigkeit sich wie gewohnt zu bewegen, die immer mehr zunimmt und letztendlich – aus welchen Gründen auch immer, denn hier ist die Medizin zwar weit aber eben nicht am Ziel – beabsichtigt, eine Bewegung gänzlich unmöglich zu machen. Diese Versteinerung, und dies umfasst die zweite Ähnlichkeit, überträgt sich auch auf Freunde, Bekannte und Verwandte. Nicht alle sind davon betroffen, aber einige wenden sich ab und können mit diesem Zustand nicht umgehen. Und Sie möchten natürlich auch nicht „infiziert“ werden, wenngleich diese unschöne Sache nicht ansteckend ist. Es ist vielmehr die Scheu vor einer Konfrontation mit der Realität. Denn: es kann jeden treffen und daher will man sich diese Sache vom Hals halten. Man will sich also nicht damit auseinandersetzen. Oder aber man kann sich den Hilfebedarf vorstellen der für so eine Person aufgebracht werden und was der Betroffene leisten muss. Allerdings kann man dies nicht verallgemeinern. Und dies würde die dritte Ähnlichkeit umfassen, die mich davon überzeugte genanntes Bild aus der Antike zu übernehmen und diese hervorragend für mich passt: die so genannte Krankheit mit den 1000 Gesichtern. Spätestens jetzt wissen Sie worum es geht. Multiple Sklerose die ebenso wie das Haupt der Medusa 1000 Schlangen als Haare hat. Ebenso schrecklich und abstoßend. Und nicht greifbar. Sie verläuft also immer irgendwie anders und es ist zwar eine Ähnlichkeit festzustellen, aber nicht eine vollkommene Übereinstimmung. Es ist unmöglich zu wissen woran man ist und was kommen mag. Dies beeinflusst nicht nur das Denken, sondern auch das Leben an sich. Die reagiere ich auf Unwägbarkeiten, also Dinge die ich nicht vorhersehen kann und die so nebulös sind wie die Quantenmechanik. Will heißen: beobachtet man ein Problem oder eine Symptomatik, so kann sie sich anders zeigen als wenn man sie nicht beobachtet hätte. Dies macht die Sache so aufwendig und energieintensiv für Betroffene und Angehörige, damit umzugehen, das Unvorhergesehene zu erwarten, nicht zu übertreiben um sich nicht auch noch psychisch zum Krüppel zu schießen und Hilfe anzunehmen. Letzteres kann ein immenses Problem darstellen, da die betroffenen Menschen im Durchschnitt gerade in der Zeit ihrer höchsten Leistungsfähigkeit (20-40 Jahre) davon betroffen sind.
Bis ich letztendlich in der Lage war der Medusa den Kopf abzuschlagen – und sie ist der Sage nach sterblich –, vergingen einige Jahre. Sie waren geprägt von stetigem Abbau der Fähigkeiten und einer zunehmenden Versteinerung. Jedoch: ich konnte das Ruder in verschiedenen Bereichen herumwerfen, den Kurs selbst bestimmen und mein Heft nicht vollkommen aus der Hand geben. Dies war mit vielerlei Schwierigkeiten und Herausforderungen verbunden, die ich erzählen will. Letztendlich fühle ich mich einem Perseus bzw. Helden sehr ähnlich, da ich ohne Arroganz behaupten darf trotz aller Widrigkeiten mein Leben aktiv gestaltet zu haben. Ich will Ihnen aber versichern, dass sich in diesem Buch nicht dem Hochmut verfallen werde. So ein Buch würde ich auch nicht gerne lesen wollen. Es geht hauptsächlich, um meine Krankheitsgeschichte, mein Umgang damit und der Dinge die ich lernen konnte.
Dieses Buch also, will kein Ratgeber sein oder hat nicht den Anspruch allgemeingültig und unumstößlich daher zukommen, sondern es dient in erster Linie der Beschreibung meines Lebens und der Personen die darin vorkommen oder vorkamen. Vielleicht kann beim Lesen dieses Buches auch die ein oder andere Bewältigungsstrategie – ob jetzt positiv oder negativ – dargestellt werden und im besten Fall Anregungen geboten werden. Natürlich ist es immer negativ für einen selbst, wenn man Vergleiche zieht. Aber es ist beim Menschen oft zu beobachten. Es ist eine einfache Denkstruktur, doch eine Nachvollziehbare die unter Umständen sogar ganz natürlich ist. Dieses Werk ist also ein Angebot ein jeden lesenden Menschen der sich für Biografien begeistern kann. Sie will nicht, dass sie sich schlechter fühlen oder meinem Bericht übermäßig Bedeutung für sich selbst beimessen. Über das Thema muss mehr und ausführlicher geredet werden, was ich zurzeit etwas vermisse. In diesem Buch werden dreizehn Jahre meines Lebens dargestellt, wie sie wirklich passiert sind. Dies ist manchmal angenehm, erfreulich, lustig aber auch erschreckend, furchtbar, abstoßend. Aber es ist genauso passiert. Und das ist ein ganz wichtiger Punkt dieses Buches: Echtheit und bedingungslose Ehrlichkeit. Das mag radikal klingen und wirken, aber es ist das was mir geholfen hat. Die Wahrheit trifft, aber eine Lüge verschmerzt mehr. Darum will ich an dieser Stelle erst einmal einen kurzen Einblick in die Zeit vor der Erkrankung werfen, da sie den Kontrast zu Zeit danach erhöht. Somit wird deutlich – oder besonders deutlich – was verloren gegangen ist. Ein bisschen Wehmut möge mir der geneigte Leser nachsehen.
Ein besonderer Aspekt wird insbesondere auf meine Frau und meine Tochter gelegt, denn diese zwei Menschen verbringen – in Wohl und Weh – die meiste Zeit mit mir. Sie ertragen mich, sie helfen mir, ihre Gegenwart ist eine Bereicherung für mich und ich weiß, dass ich für sie eine enorme Bürde darstelle. Sie würden dies nie so sagen, aber ungeschönt ist es genauso. Meine Fähigkeiten nicht zu bewegen haben über die Zeit abgenommen und bedingen eine immense Erschwernis. Dennoch würde ich für Sie durch das Feuer gehen und eine Lanze brechen. Das tue ich freilich nicht nur, weil ich ein guter Mensch bin und ihnen etwas zurückgeben möchte, sondern weil ich ein streitbarer Mensch sein kann. Seit der Erkrankung hat dieser Umstand an besonderer Bedeutung gewonnen und ich möchte insbesondere darauf eingehen wie wichtig es sein kann sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Dies schreibe ich, da es mir sehr wichtig ist seine Interessen als behinderter Mensch vehementer durchsetzen zu müssen. Dies alles wird stets getragen von den Gedanken der Selbstbestimmung. Und so ist für mich die Selbstbestimmung ein elementarer Bestandteil meiner selbst, denn Selbstbestimmung meint ja eigene Entscheidungen treffen zu können und zu wollen, auch wenn die Umgebung oder eine andere soziale Struktur Gegenteiliges von einem verlangt. Und so habe ich mir meine Behinderung und die Behinderung anderer Menschen auf die Fahne geschrieben. Denn wenn man – und ich komme im Lauf dieses Buches noch ganz genau darauf ein – im Rollstuhl sitzt sind manche Mitmenschen dazu verleitet Entscheidungen für denjenigen der nicht mehr laufen kann treffen zu müssen, ohne diesen zu fragen. Ganz besonders wird dies deutlich, wenn selbige Menschen über die Person im Rollstuhl in der dritten Person mit denen reden die noch laufen können. Hier sehe ich Aufklärungsbedarf. Ich möchte an dieser Stelle ein Zitat nennen, das mir sehr gefallen hat: „Derjenige, der noch laufen kann ist eindeutig in der besseren Position.“
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