Wenn es ihre vollen Terminkalender zugelassen hätten, wären sie mit derselben Power an die Realisierung vom Zufluchtsoasenprojekt gegangen. Glücklicherweise erhielten die drei Freundinnen prompte Unterstützung: Victor, Mathea' s Sohn hatte sich in den Kopf gesetzt, gemeinsam mit seinen Freunden, Fluchthilfe zu leisten, bevor deren Sommerferien vorbei waren und für sie der Unialltag wieder losging. Und so liehen sich Victor, Cem und Leonie je ein Auto und machten sich über die selbe Route auf, zum Stazione Centrale in Mailand und liessen sich ihren letzten gemeinsamen Abend durch den Kopf gehen:
Bevor sie losfuhren, um dieses Vorhaben mit allen Konsequenzen durchzuziehen, hatten sie sich noch zu einer ausführlichen Besprechung auf das friedliche leere Zufluchtsoasengelände zurückgezogen: Sie waren sich schnell einig, was sie aus Tante Lis' s Konzept übernehmen wollten. »Die Idee, einen Umschlag mit der Aufschrift ˃Money to pay the Checkoutbill˂ zu versehen, darin das Bargeld für die Checkoutrechnung zu verstauen und aufs Kopfkissen zu legen, wenn man überraschend abhauen muss, finde ich super«, meinte Leonie. »Der Auswahlwettbewerb finde ich dagegen von diskriminierend bis verhältnisblödsinnig«, schloss sie. »Es macht keinen Sinn, mehr als allerhöchstens sechs Personen hier unterzubringen«, warf Victor ein: »Der Kapitalismus ist schuld daran, dass wir nur sechs angenehme Schlafplätze anbieten können- nicht wir. Darum ist es einmal mehr das System, das andere diskriminiert-nicht wir», schloss er. »Jede Zivilisationsgesellschaft braucht ein System. Tragisch ist nur, dass der Menschheit noch immer nicht gelungen ist, ein solches gerechtes System zu entwickeln. Trotzdem haben wir die Pflicht, diese Menschen in unsere Zivilgesellschaft zu integrieren, und zwar möglichst schnell«, sinnierte Cem. »Wie würdet ihr beide eigentlich Zivilgesellschaft definieren?«, wollte Leonie wissen. »Unter einer Zivilgesellschaft verstehe ich eine heterogene oder homogene Menschengruppe, die sich im Bezug auf das tagtägliche Miteinander und Nebeneinander auf ein allgemein gültiges und immerwährendes Rechtsystem geeinigt hat und daraus ihre rechtsstaatlichen Organe daraus ableitet«, strahlte Cem wie aus dem Maschinengewehr geschossen. »Wow, du hast dir echt Gedanken darüber gemacht«, staunte Victor. »Ein Jusstudent hätte es nicht schöner sagen können. Dem kann man, beziehungsweise frau, sich deiner Definition ausschliesslich anschliessen.« Cems Augen leuchteten vor Begeisterung. »Ja, ich habe mir tatsächlich das Gehirn zermartert: Ich habe nämlich noch zwei Vorschläge: Erstens müssen wir immer noch dafür sorgen, dass die Nazischweine nie wieder Einfluss gewinnen....« - »Ich wüsste nicht, wie das diesen halbstarken Vollidioten jemals wieder gelingen sollte. Ich meine, ich sehe jetzt gerade überhaupt keinen Zusammenhang zu unserer Sache hier«, unterbrach ihn Victor. »Diese Gefahr kommt folgendermassen zustande«, fuhr Cem fort: »Die Menschen kommen hierher und müssen sich mit einer brandneuen wildfremden Kultur und Sprache auseinandersetzen. Weil das ganze seine Zeit braucht, werden sie auf Unterstützung angewiesen sein. Wenn sie jedoch dermassen traumatisiert sind von der Flucht, dass sie damit überfordert sind, könnten sie ausrasten und unerlaubte Dinge tun: Und jede Straftat ist Wasser auf die Mühle von Neonazis, da sind wir uns doch hoffentlich einig....« - »Wie willst du das ändern?«, lachte Victor. Cem nahm eine Münze in die Hand. »Erstens sollten wir Leute einer Religion aufnehmen. Wenn ich diese Münze aufwerfe und sie mit dem Kopf zum Himmel auf den Tisch fällt, dann nehmen wir Christen auf. Andernfalls nehmen wir Muslime auf. So haben wir die Entscheidung dem Zufall überlassen.«
Schliesslich kamen die drei an, checkten für eine Nacht im selben Hotel wie ihre »Vorgängerinnen« ein und mischten sich am nächsten Tag in aller Früh unter die Flüchtlinge. Sie redeten nicht lange um den hiessen Brei und sprachen den erstbesten jungen Typen, den sie allerhöchstens in ihrem Alter schätzten, an. Dann erteilten sie diesem Mehmet den Auftrag, zwei weitere Männer und drei weitere Frauen in seinem Alter auszusuchen, die mit ihnen weiter nach Norden flüchten sollten. »Damit ihr in eurer neuen Heimat möglichst schnell glücklich werdet, habe ich euch bereits den ersten Vertrag mitgebracht«, drückte ihm Cem einen dünnen Stapel Papier und eine Hand voll Kugelschreiber in die Hand. »Auf diesen Blättern hier sind die wichtigsten Infos für den Alltag enthalten. Unter anderem auch die absolut wichtigsten und sinnvollsten Regeln übers Zusammenleben. Wenn ihr dieses Blatt zuunterst unterschreibt, zeigt ihr, dass ihr versprecht diese Regeln einzuhalten und bekommt dadurch schneller gute Jobs«, fuhr Cem auf Arabisch fort. Obwohl diese ersten Verträge alle ebenfalls auf Arabisch abgefasst waren, erkundigte sich Mehmet lachend, was denn geschrieben stehe, was sie noch nicht über den Westen wüssten. »Das beginnt damit, dass Frauen und Männer genau dieselben Rechte und Pflichten haben...« Mehmet runzelte verwundert die Stirn während Cem weitererklärte »...das nennt man im Westen Gleichstellung. Ein weiterer riesiger Unterschied ist, dass jeder sagen, denken, und machen darf was er will- solange er andere nicht daran hindert, dasselbe zu tun. Das ist so das Wesensmerkmal einer westlichen Demokratie«, schloss er. Mehmet sah immer noch wie ein Fragezeichen aus: »Ist das nicht chaotisch, wenn alle alles dürfen?« Sie lachten alle, als Cem diesen Satz übersetzte. »Damit alles seine Ordnung behält, gibt es einige Regeln, da mach dir mal keine Sorgen«, erklärte Cem. »Weisst du was, mein Freund? Lies es doch einfach durch, denk drüber nach, verteil es deinen fünf besten Freunden und unterschreibe es, wenn es dir gefällt. Ein kleiner Tipp: Das alles sind Verhaltensregeln, die auch in der Luxusunterkunft gelten, in die wir euch bringen werden«, schloss er.
Keine Stunde später waren sie alle beisammen: Mehmet, seine Brüder Aadan und Mehdi und die drei Mädchen namens Aahoo, Nabila und Naahid. Sie hatten wesentlich mehr Glück: Ohne auch nur ein einziges Mal angehalten zu werden, kamen sie nach einer zehnstündigen Autofahrt in der Zufluchtsoase an.
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