Im Judentum war Wucher hingegen explizit nur zwischen Juden verboten. "Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen: weder Zinsen für Geld noch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsen nimmt" (Deuteronomium 23,20). Dies ermöglichte es aber den Juden, Geld gegen Zins an Nichtjuden zu verleihen. Im Mittelalter und weit darüber hinaus war dies einer der Gründe für die Unbeliebtheit der Juden. Als zeitweise offener, aber zumeist unterschwelliger, Antisemitismus hielt sich dieser Hass auf das Judentum durch die Jahrhunderte und führte zu Vertreibung der Juden aus unzähligen Ländern (jüdische Diaspora = Zerstreuung der Juden). Es war also mitnichten eine Idee des kranken Österreichers mit dem Schnauzbart, lediglich das Töten der Juden war ein Novum. Der Islam verdammt den Wucher noch viel umfassender: "Und was ihr auf Wucher ausleiht, um es zu vermehren mit dem Gut der Menschen, das soll sich nicht vermehren bei Allah" (Koran, 30. Sure 38).
Die Liste der kirchlichen Konzile, auf denen der Wucher als eine besonders schlimme Sünde verdammt wurde, ist eindrucksvoll lang: die Konzile von Elvira (305-306), Arles (314), Nizäa (325), Karthago (348), Taragona (516), Aachen (789), Paris (829), Tours (1153), das Laterankonzil (1179), die Konzile von Lyon (1274) und von Wien (1311).
Das letztgenannte Konzil urteilte noch radikaler als alle früheren: Jeder Herrscher, der nicht alle Wucherer in seinem Herrschaftsbereich aburteilte, sollte exkommuniziert werden (auch wenn der Herrscher selbst sich nichts hatte zuschulden kommen lassen). Da die Zinszahlungen deshalb oft mit verschiedenen Vorwänden kaschiert wurden, mussten die Geldverleiher den kirchlichen Autoritäten üblicherweise ihre Bücher zeigen. Das fünfte Laterankonzil (1512 bis 1517) bekräftigte noch einmal ausdrücklich die Definition von Wucher als "jegliche Zinszahlung auf Geld".
Im Jahr 1545 legalisierte Heinrich VIII., nach seinem Bruch mit dem Papst, erstmals in der abendländischen Welt die Zinszahlung. Innerhalb der katholischen Kirche wurde am Zinsverbot erstmals mehr als dreihundert Jahre später gerüttelt. Eine Frau aus dem französischen Lyon hatte im Jahre 1822 Zinsen für Geld genommen, und ihr sollte so lange die Absolution verweigert werden, bis sie den unrechtmäßigen Gewinn wieder zurückgezahlt hätte. Bischof Rhedon suchte um Klarstellung in Rom nach und erhielt folgenden Bescheid: "Lass die Bittstellerin wissen, dass ihre Anfrage zur gegebenen Zeit beantwortet werden wird...; unterdessen mag sie das Sakrament der Absolution empfangen, wenn sie uneingeschränkt bereit ist, sich den Lehren des Heiligen Stuhls zu unterwerfen."
Eine baldige Entscheidung zum Thema Zinsen wurde dann noch einmal 1830 in Aussicht gestellt und ein weiteres Mal von der Propaganda-Kongregation 1873. Doch die versprochene Klarstellung kam nie. Die Sünde des Zinses, des Wuchers, wurde nie offiziell gestrichen, sondern geriet einfach in Vergessenheit. Das kanonische Gesetz aus dem Jahr 1917 (Kanon 1523), das bis heute gilt, verlangt von Bischöfen zu investieren: "Die Pflichten der kirchlichen Vermögensverwalter ergeben sich aus dem allgemeinen Grundsatz, dass sie ihr Amt mit der Sorgfalt eines guten Hausvaters verwalten müssen... Sie haben die Pflicht..., überflüssige Gelder soweit als möglich zum Nutzen der Kirche fruchtbringend anzulegen." Natürlich kein Wort darüber, wie das gehen soll, so ganz ohne ohne Zinsen.
Viel später wird Wucher dann endlich neu definiert, nicht als generelle Zinsforderung, sondern nur als die Berechnung überhöhter Zinsen. Es muss ein völliger Zufall gewesen sein, dass die Sünde des Wuchers genau zu dem Zeitpunkt "in Vergessenheit" geriet, als die Kirche selbst Kapitaleignerin geworden war und nicht mehr, wie traditionell in der Historie, nur Landbesitzerin.
Estelle und Mario Carota, zwei mexikanische Katholiken, richteten in der Hoffnung, sie könnten die lateinamerikanischen Länder in der Schuldenkrise der 1980er Jahre von ihrer drückenden Zinslast befreien, 1985 ein formelles Ersuchen an den Vatikan, seine Position zum Zins darzulegen. Sie wurden von keiner geringeren Instanz als der Kongregation für die Glaubenslehre unter der Leitung von Kardinal Ratzinger informiert, dass die Lehre über den Wucher nie neu formuliert worden sei und dass sich am Standpunkt der Kirche nichts geändert habe. Informell wurde ihnen aber außerdem mitgeteilt, dass es unglücklicherweise keinen einzigen Experten zu dieser Frage mehr in Rom gebe, es hätten sich zwischenzeitlich alle auf die Themen Sexualität und Abtreibung spezialisiert. Die beiden Mexikaner suchten weiter nach einem Experten: bei den Jesuiten, Augustinern, Dominikanern, Salvatorianern, und sie befragten sogar Professoren der Moraltheologie, die in Seminaren über die Dritte Welt eine Theologie der wirtschaftliche Gerechtigkeit lehrten. Doch sie fanden niemanden, der sich noch zum Verbot des Zinses äußern wollte.
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