Bis der Jeep kam, mussten wir also noch eine kleine Weile warten. Am liebsten wäre ich schon in das Führerhaus gestiegen. Als ich gerade den Fahrer des Lasters fragen wollte, ging die Außentür von Frau Vogts Küche auf. Frau Vogt kam mit einem großen Tablett belegter Brote heraus. Direkt hinter ihr kam ihr Sohn Bernhard, der in den Händen je eine Kanne hielt.
Beide gingen auf den schweren Eichentisch zu, der unter der großen Buche direkt vor dem Haus stand. Dort breitete sie eine Tischdecke, die sie unter dem Tablett in der Hand gehalten hatte, aus. Während Bernhard die Kannen auf den Tisch stellte, lief Frau Vogt schnell ins Haus zurück, um Tassen und Milchbecher zu holen. Im nächsten Moment war sie aber schon wieder da, stellte alles auf den Tisch und schenkte Kaffee und Milch für alle ein.
Als Oma und Mama von oben herunterkamen, wo sie die zwei Räume noch ein letztes Mal durchgewischt hatten, um ja alles sauber zu hinterlassen, war der Tisch gedeckt und der Kaffee eingeschenkt. Als die beiden Frauen aus der Haustür kamen, blieben sie überrascht stehen.
„Mein Gott, Frau Vogt, was haben Sie sich da noch für Arbeit gemacht? Das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. Und vor allem, wir können das doch nun gar nicht mehr gutmachen“, erklärte Großmutter.
„Nun hören Sie aber bloß auf! Man muss nicht für alles, was man aus Freundlichkeit macht, gleich eine Gegenleistung erwarten. Das hier tue ich für das, was Sie schon lange durch Ihre fortwährende Hilfe hier auf dem Hof für mich erbracht haben“, sagte Frau Vogt.
Alle nahmen nun ihre Tasse und tranken. Dabei wurden dann auch die wunderbar schmeckenden Wurst- und Schinkenbrote verzehrt. Eine richtig fröhliche Stimmung wollte dennoch nicht aufkommen. Der bevorstehende Abschied verhinderte dieses wohl. Nur die Soldaten scherzten untereinander ein wenig rum.
Plötzlich drehte sich Frau Vogt um und ging auf die Haustür zu. Im Umdrehen sagte sie: ,,Ach, ich habe da ja noch etwas vergessen.“ Schon war sie im Haus verschwunden. Wieder heraus kam sie mit einem großen Kartoffelkorb in der Hand. Für alle war unschwer zu erkennen: Dieser Korb war bis an den Rand voll mit Lebensmitteln, alle vom Hof.
Mit den Worten: ,,Hier, liebe Frau Gojny, das wird für die ersten Tage in Ihrem neuen Heim reichen und wenn nicht, dann kommen Sie einfach alle wieder zurück.“ Sie drehte sich zu Oma und fügte noch hinzu: ,,Und Sie fragen jetzt bitte nicht, was Sie dafür tun müssen! Ach ja, eines können Sie doch tun! Sie müssen mir versprechen, dass Sie mir den Korb wiederbringen und mich so häufig besuchen kommen, wie Sie können. Das gilt für euch alle. Wenn es geht, bringt mal euren Papa mit.“
Dann drückte sie uns alle noch einmal an sich, beginnend mit Oma, Mama und dann uns Kinder. Dabei liefen ihr wieder Tränen aus den Augen. Als ich an der Reihe war, flüsterte sie mir ins Ohr: ,,Du, Paulchen, solltest eigentlich mal Bauer werden, denn du kannst ja jetzt schon ganz außergewöhnlich gut mit Tieren umgehen. Das hat mir auch Bernhard bestätigt.“ Vor lauter Verlegenheit antwortete ich ihr: „Ja, Frau Vogt, das mach ich.“
Bernhard, der direkt neben Brigitte stand, fragte diese: ,,Und du? Kommst du mich denn auch mal besuchen?“ Dabei wurde er ganz rot im Gesicht. Als Gitte ihm dann leise antwortete: ,,Wenn du es denn gern möchtest und ich irgendwie kommen kann, dann komme ich.“ Blitzschnell beugte er sich nun zu Brigitte hinunter, drückte sie kurz an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann ließ er sie genauso schnell wieder los und rannte davon. So bekam meine ältere Schwester Brigitte ihren ersten Kuss.
Frau Vogt, aber auch alle anderen, schauten Bernhard verdutzt hinterher. ,,Aha!“, sagte Frau Vogt. „Der junge Mann ist verliebt.“
In diesem Moment bog der Jeep von Captain Johns von der Straße auf den Hof ein. Langsam kam er auf uns zu und blieb direkt neben dem Laster stehen. Die Seitentür ging auf und aus dem Wagen stieg Captain Johns selbst aus. Nachdem er die drei Frauen per Händedruck begrüßt hatte, wandte er sich unserer Mutter zu.
„Madam, ich habe in Erfahrung bringen können, dass Ihr Mann nun wirklich auf dem Weg hierher in den Westen ist, und zwar nach Meppen. Gleich, auf der Fahrt nach Rühlertwist, werde ich Ihnen mehr Informationen geben. Deshalb bin ich im Übrigen auch selber gekommen. Wie sieht es aus? Können wir los?“ Woraufhin der Fahrer des Captain seinem Vorgesetzten kurz meldete: ,,Yes, Sir, es ist alles klar zur Abfahrt.“
Da ich unbedingt im Führerhaus des Lasters sitzen wollte, wartete ich nicht lange, sondern kletterte ohne weitere Anweisung in das offenstehende Fahrerhaus. Der Fahrer des Lasters, welcher sonst Fahrer des Captains war, und der andere Soldat halfen nun Brigitte und meinen Brüdern Hans und Heinrich auf die Ladefläche. Der Captain befahl aber, dass Brigitte vorne im Fahrerhaus sitzen sollte, dafür aber der andere Soldat aus Sicherheitsgründen hinten Platz nehmen musste. Als Brigitte auch vorne Platz genommen hatte, konnte es losgehen.
Oma und Mutter stiegen dann in den Jeep zu dem Engländer. Mutter saß vorne neben dem Captain, während Oma mit der kleinen Rita und Brüderchen Gerhard hinten Platz nahmen. Nachdem sich der Jeep in Bewegung gesetzt hatte, fuhr auch der Laster an. Als ich noch einmal nach rechts zur Seite blickte, sah ich Frau Vogt - sie weinte!
Brümsel, dieser Abschnitt lag nun hinter uns.
Was würde uns die Zukunft bringen? Vor allem, wann würde Papa wieder zu uns zurückkommen? Ich kann mich erinnern, dass ich mich mit diesem Thema immer öfter beschäftigte. Wahrscheinlich, weil ich in den letzten eineinhalb Jahren, in denen wir in Brümsel gelebt hatten, auch älter und vor allem verständiger geworden bin. Ich wollte nun endlich auch einen Papa haben wie andere Kinder, die ich in der Schule kennengelernt hatte.
Ganz gespannt war ich nun auf unsere große Wohnung, die uns dieser nette englische Captain versprochen hatte. Der Wagen war an der Straße angekommen und bog nach rechts in Richtung Meppen ab. Der Fahrer des Lasters sprach mich auf der Fahrt öfters an. Da ich ihn nicht verstand, lachte ich ihn immer nur freundlich an und zuckte mit den Schultern.
Woraufhin er mir immer mit der rechten Hand über den Kopf streichelte und sagte ,,It’s O.K., boy“, was ich natürlich auch nicht verstand. Da er aber dabei immer freundlich lachte, war das wohl so in Ordnung.
Die Fahrt ging über schmale und sehr holprige Kopfsteinpflasterstraßen, weshalb wir nur sehr langsam vorankamen. Mehr als vierzig bis fünfzig Kilometer pro Stunde waren da nicht drin. Wir fuhren zunächst über Lingen und dann nach Meppen. Von dort waren es noch etwa zehn Kilometer. Die Landschaft war sehr flach. Große ausgedehnte Wälder wechselten sich mit großen Moorflächen ab und auf beiden Seiten der Straße standen viele Bauernhäuser. Der Jeep mit dem Captain, in dem Oma, Mama, Rita und der kleine Gerhard saßen, fuhr immer vor uns her.
Etwa fünfzehn Minuten hinter Meppen ging plötzlich das rechte Blinklicht des Jeeps an und der Jeep bog rechts ab. Er fuhr über eine schmale Brücke. Der Fahrer unseres Lastwagens stoppte und sprang mit einem Satz auf die Straße, ging mit ein paar Schritten auf die Brücke zu und nahm diese in Augenschein. Nachdem er einen prüfenden Blick unter die Brücke geworfen hatte, kam er wieder ins Fahrerhaus zurück und setzte sich wieder hinters Lenkrad.
„O.K.“, sagte er und gab Gas. Mit lautem Motorgebrumm setzte sich der Laster wieder in Bewegung. Vorsichtig fuhr er über die Brücke.
Auf der rechten Seite, gleich längs zum Graben, stand ein rotes Backsteingebäude. Es war ein Zweifamilienhaus. Davor standen seitlich des Grabens, also parallel zur Straße, drei in voller Blüte stehende Sanddornbäume. Diese habe ich deshalb in Erinnerung behalten, weil sie so wunderbar blühten und einen intensiven Blütenduft ausströmten, der selbst noch im Führerhaus unseres Lasters deutlich wahrzunehmen war.
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