Alle nahmen jetzt ihre Tasse und stießen mit dem Kaffee an. Frau Vogt sagte: ,,Auf eine glückliche Heimkehr Ihres Mannes.“ ,,Danke!“, sagte Mama. Nun sah Mama unsere Oma hilfesuchend an. Eigentlich waren wir ja zu Frau Vogt runtergegangen, um sie von unserem baldigen Auszug zu unterrichten.
Nachdem das Gespräch nun aber eine solche Wendung genommen hatte, war es für Mama besonders schwer, dieses Vorhaben umzusetzen. Sie räusperte sich, legte ihre rechte Hand auf die Schulter von Frau Vogt und sie anschauend sagte sie: ,,Liebe Frau Vogt, da gibt es noch etwas, was wir Ihnen sagen müssen.“
Frau Vogt schaute nun ihrerseits unsere Mutter an. Nachdem Oma ihr aufmunternd zugenickt hatte, sagte Mama: ,,Dass mein Mann zurückkommt, ist die eine gute Nachricht, die uns die Engländer überbracht haben. Da sie aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass mein Mann in den nächsten Tagen, aus dem Osten kommend, hier aufkreuzen wird und sie ihn sofort bei der Zollbehörde in Rühlertwist einstellen wollen, haben sie uns dort eine große Dienstwohnung zur Verfügung gestellt, in die wir sofort einziehen können.“
Danach entstand eine eigenartige Stille. In diese Stille hinein fragte Brigitte: ,,Darf ich wohl noch ein Glas Milch?“ ,,Natürlich“, sagte Frau Vogt und goss meiner Schwester das Milchglas wieder voll. Als sie die Milchkanne wieder absetzte, sagte sie: ,,Heißt das, dass Sie uns verlassen werden? Wann?“
Wieder entstand eine Gesprächspause, wieder sah Mutter Oma hilfesuchend an, woraufhin Oma das Wort ergriff: ,,Ja, liebe Frau Vogt. Es fällt uns ja selber schwer. Wir werden nächste Woche Freitag nach Rühlertwist in die große Dienstwohnung umziehen.“ Nach einer kurzen Pause fuhr sie dann fort: ,,Vielleicht ist es auch gut, dass hier auf Ihrem Hof und bei Ihnen wieder Ruhe einkehrt. Wir wissen natürlich selbst, dass wir hier mit den sechs mehr oder weniger kleinen Kindern eine große Unruhe reingebracht haben.“
Überrascht sah Frau Vogt Oma an: ,,Das stimmt so nicht. In der Anfangszeit haben mein Sohn und ich uns Ihnen gegenüber nicht richtig und schon gar nicht gut verhalten. Das tut mir heute noch aufrichtig leid. Aber nach unserer damaligen Aussprache war das vorbei. Ich fing an, Sie und vor allem auch Ihre Kinder zu mögen. Sie haben mir dann auch bei der vielen Arbeit auf dem Hof geholfen. Dafür werde ich Ihnen immer dankbar sein und ich habe dann versucht, Ihnen zu helfen. Und nun, wo ich Sie aufrichtig gern habe, gehen Sie so plötzlich wieder weg. Sie können mir glauben, das tut richtig weh.“
Sie legte beide Hände vors Gesicht und begann wieder zu weinen. Dieses Mal ließen Oma und Mama sie gewähren. Als sie wieder aufschaute, hatte sie sich offensichtlich gefasst. Mit festem Blick schaute sie nun die beiden Frauen an: ,,Ich kann Sie ja verstehen, dass Sie so schnell wie möglich da oben aus den zwei kleinen Zimmern raus wollen. Das da oben ist natürlich keine dauerhafte Bleibe für Sie, schon gar nicht, wenn jetzt Ihr Mann noch dazu kommt. Aber für mich ist das wie ein Schock, es geht mir alles zu schnell. Natürlich muss und werde ich damit, wie schon vorher mit vielen anderen Dingen, fertig werden. Aber es ist hart für mich! Ich bitte Sie um Verständnis.“
Nach einer Weile fügte sie noch hinzu: ,,Hoffentlich werde ich Ihren Mann noch kennenlernen. Denn wer eine solch prächtige Familie hat, muss doch auch ein guter Mensch sein.“
Mutter schaute Großmutter überrascht an. Keiner von beiden hatte wohl mit einem derartigen Gefühlsausbruch und mit solchen warmen Worten gerechnet. Es entstand eine fast peinliche Stille. Oma schüttete noch einmal Kaffee nach. Als sie die Kaffeekanne abgesetzt hatte, hielt sie Frau Vogt ihre rechte Hand hin und sagte: ,,Liebe Frau Vogt, natürlich war es zu Anfang für uns alle nicht leicht, aber wir haben uns zusammengerauft, weil wir erkannt haben, dass es miteinander besser geht als gegeneinander. Dadurch ist letztendlich für uns alle etwas Gutes herausgekommen. Wir hatten eine Bleibe und etwas zu essen, und Sie und Ihr Sohn hatten Hilfe bei der schweren Arbeit auf Ihrem Hof. Das Wichtigste und Schönste dabei aber ist, dass wir Freunde geworden sind.“
Dann nahm Großmutter Frau Vogt in den Arm, drückte sie und sagte zu ihr: ,,Auf alle Fälle danken wir Ihnen für alles, was Sie für uns getan haben. Wenn wir können, werden wir Sie sicher besuchen. Sollten Sie Hilfe bei der nächsten Ernte brauchen, kommen wir, um Ihnen zu helfen.“
Das Gespräch wurde nun merklich lockerer. Frau Vogt stand plötzlich auf, ging in die Kammer nebenan und kam nach ganz kurzer Zeit wieder an den Tisch. In der einen Hand hielt sie drei kleine Gläser und in der anderen hatte sie eine halbvolle Flasche Korn. Sie stellte sie vor Mutter, Großmutter und auf ihren Platz ein Glas. Mit den Worten: ,,Der ist gut, den hat mein Bruder selbst gebrannt.“
Sie nahm dann ihr Glas in die Hand und stieß mit Mama und Oma an: ,,Auch wenn es mir schwerfällt, auch ich bedanke mich bei Ihnen und wünsche Ihnen, Ihrem Mann und Ihren Kindern für die Zukunft alles erdenklich Gute! Prost!“
Auch dieses Erlebnis, in der Küche von Frau Vogt, ist mir bis heute in Erinnerung geblieben, insbesondere der Satz: „Miteinander geht es besser als gegeneinander“.
Wieder ging ein Kapitel unserer Flucht aus dem Osten zu Ende. Die Zeit in Brümsel war, trotz des schweren Anfangs, doch eine schöne Zeit geworden. Irgendwie fühlte ich mich dort gut aufgehoben. Immerhin wurde ich dort eingeschult, auch wenn die Schule durch den nur täglich einstündigen Unterricht nicht gerade optimal war, machte ich doch hier meine ersten Schul- und Lernerfahrungen.
Durch die kleinen Arbeiten, die ich täglich auf dem Hof zu verrichten hatte und die ich im Übrigen sehr gerne erbrachte, lernte ich schon sehr früh, wie man richtig mit Tieren umzugehen hatte, da Frau Vogt sie sehr umsichtig und liebevoll pflegte.
Für die drei Frauen wurde es noch ein lustiger Abend. Meine ältere Schwester und ich wurden irgendwann nach oben geschickt. Oma trug Brigitte vorher noch auf, allen anderen Kindern zum Abendbrot einen Teller Steckrübensuppe aufzutischen. Als meine Schwester und ich die Küche verließen, rief Oma noch hinter uns her: ,,Die Suppe steht auf dem Küchenherd.“
Damit enden meine Erinnerungen an den Ort Brümsel, bis dann am Freitag darauf der englische Militärlaster auf den Hof fuhr.
Die letzten Tage waren durch das Warten auf die Heimkehr unseres Vaters gekennzeichnet - doch er kam nicht!
Am Donnerstag, also am Vortag unseres geplanten Umzugs, fuhr plötzlich ein englisches Motorrad auf unseren Hof. Der Motorradfahrer stieg von seinem Rad und kam direkt zu uns nach oben. Gott sei Dank war Oma da, denn der Soldat sprach nur Englisch, welches nur Oma konnte. Er überbrachte uns eine kurze Nachricht, salutierte kurz und zackig und war auch sofort wieder verschwunden.
Als er wieder gegangen war, übersetzte Oma meiner Mutter die Nachricht: ,,Captain Johns lässt uns grüßen. Er habe Kontakt zu Gerhard, der noch im Osten sei. Er sei nun aber auf dem Weg in den Westen nach Meppen. Der Militärlaster würde morgen um elf Uhr kommen und wir sollen uns für den Umzug bereithalten.“
Am nächsten Vormittag, Punkt elf Uhr, fuhr der Militärlaster auf den Hof. Die wenigen Sachen, die wir hatten, waren von den beiden Soldaten schnell von oben heruntergeschafft und auf dem Laster verstaut. Einer der Soldaten war übrigens der Fahrer von Captain Johns. Dieser wandte sich dann an Großmutter und sagte ihr, dass wir noch etwas warten müssten. Captain Johns würde noch einen Jeep schicken, mit dem wir dann mitfahren könnten. Die älteren Kinder sollten aber auf dem Laster mitfahren. Oma entschied sofort: ,,Brigitte, Hans, Heinrich und Paul fahren mit dem Laster. Mama, Rita, der kleine Gerhard und ich fahren dann mit dem Jeep.“
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