Wirklich? sagte der Engländer.
Ja, ich hatte selbst Gelegenheit, diesen Menschen im Jahre 1816 oder 1817 zu sehen; man stieg in seinen Kerker stets nur mit einer Wache hinab; er machte einen tiefen Eindruck auf mich, und ich werde sein Gesicht nie vergessen.
Der Engländer lächelte unmerklich. Und Sie sagen, versetzte er, die beiden Kerker . . .
Waren etwa fünfzig Fuß voneinander, aber es scheint, dieser Edmond Dantes . . ., so hieß nämlich der gefährliche Mensch, hatte sich Werkzeuge verschafft oder verfertigt, denn man fand einen Gang, durch den die Gefangenen miteinander verkehrten.
Dieser Gang war ohne Zweifel für einen Fluchtversuch gemacht worden?
Allerdings; aber zum Unglück für die Gefangenen wurde der Abbé von der Starrsucht befallen und starb.
Ich begreife; das mußte die Fluchtpläne ein für allemal vereiteln.
Für den Toten, ja, antwortete Herr von Boville, für den Lebenden nicht; dieser Dantes sah im Gegenteil darin ein Mittel, seine Flucht zu beschleunigen. Er dachte ohne Zweifel, die im Kastell If gestorbenen Gefangenen würden auf einem gewöhnlichen Friedhofe begraben, trug den Hingeschiedenen in seine Zelle, nahm dessen Platz in dem Sacke ein, in den man ihn genäht hatte, und erwartete den Augenblick des Begräbnisses.
Das war ein gewagtes Mittel, woraus sich auf einigen Mut schließen läßt, bemerkte der Engländer.
Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß es ein sehr gefährlicher Mensch war; zum Glück befreite er die Regierung selbst von der Furcht, die sie seinetwegen hegte.
Wieso?
Das Kastell If hat keinen Friedhof; man wirft die Toten ganz einfach ins Meer, nachdem man ihnen eine Eisenkugel von 36 Pfund an die Füße gebunden hat. Sie können sich denken, wie groß das Erstaunen des Flüchtlings gewesen sein muß, als er fühlte, daß man ihn vom Felsen herabstürzte. Ich hätte sein Gesicht in diesem Augenblick sehen mögen.
Das wäre schwierig gewesen.
Gleichviel, sagte Herr von Boville, den die Gewißheit, seine 200 000 Franken wieder zu erhalten, in gute Laune versetzte; gleichviel, ich stelle es mir vor.
Der Flüchtling ist also ertrunken? fragte der Engländer, und somit wurde der Gouverneur des Kastells zugleich von dem Wütenden und von dem Narren befreit?
Gewiß.
Es mußte doch eine Art von Protokoll über dieses Ereignis aufgenommen werden? fragte der Engländer.
Ja, ja, ein Sterbeprotokoll. Sie begreifen, für die Verwandten des Dantes, wenn er welche hat, konnte es von Interesse sein, sich zu versichern, ob er gestorben sei oder noch lebe.
Folglich können sie nun ruhig sein, wenn sie von ihm erben. Er ist wohl tot, sehr tot.
Oh! mein Gott, ja. Man wird Ihnen einen Schein ausstellen, wenn sie einen haben wollen.
Selbstverständlich, sagte der Engländer. Doch um auf die Listen zurückzukommen . . .
Richtig . . . Diese Geschichte hat uns abgeführt. Verzeihen Sie.
Was soll ich verzeihen? Die Geschichte? Keineswegs; sie war mir sehr interessant.
Sie ist es in der Tat . . . Sie wünschen also alles zu sehen, was sich auf den armen Abbé bezieht, der die Sanftmut selbst war, so? Kommen Sie in mein Amtszimmer, ich will es Ihnen zeigen.
Beide gingen in das Zimmer des Herrn von Boville.
Alles war hier in vollkommener Ordnung; jedes Register bei seiner Nummer, jedes Aktenheft in seinem Fach. Der Inspektor nötigte den Engländer in seinen Lehnstuhl, legte ihm das Register und die Akten vor und ließ ihm volle Muße, darin zu blättern, während er selbst, in einem Winkel sitzend, seine Zeitung las.
Der Engländer fand ohne Mühe die Akten, die sich auf den Abbé Faria bezogen; doch es scheint, die Geschichte, die ihm Herr von Boville erzählt, hatte ihn lebhaft interessiert, denn nachdem er die ersten Stücke eingesehen, blätterte er weiter, bis er zu Edmond Dantes' Akten gekommen war. Hier fand er schön beisammen: Denunziation, Verhör, Bittschrift des Herrn Morel, Randglosse des Herrn von Villefort. Er faltete unbemerkt die Denunziation zusammen, steckte sie in seine Tasche, las das Verhör und sah, daß der Name Noirtier unterdrückt war, durchlief dann auch noch das Gesuch vom 10. Februar 1815, worin Herr Morel, nach Villeforts Rat, in guter Absicht, weil Napoleon noch regierte, die Dienste übertrieb, die Dantes der kaiserlichen Sache geleistet hatte. Nun begriff er alles. Das von Villefort aufbewahrte Gesuch war nach Napoleons zweiter Entthronung eine furchtbare Waffe in den Händen des Staatsanwalts geworden. Er wunderte sich daher nicht mehr über folgende Note, die er neben seinem Namen fand:
Edmond Dantes
Wütender Bonapartist, hat tätigen Anteil an der Rückkehr von der Insel Elba genommen.
Im geheimsten Gewahrsam und unter der strengsten Aufsicht zu halten.
Unter diesen Zeilen stand von einer andern Handschrift: In Betracht obiger Note nichts zu machen.
Die Handschrift der Randbemerkung mit der der Erklärung vergleichend, die der Staatsanwalt unter Morels Gesuch gesetzt hatte, bekam der Engländer die Gewißheit, daß Randglosse und Erklärung von einer Hand, nämlich Villeforts, herrührten.
Was die letzte Note betrifft, so sagte er sich, daß sie von irgend einem Inspektor herrührte, der vorübergehendes Interesse an Dantes' Lage genommen, durch die erwähnte Bemerkung sich aber in die Unmöglichkeit versetzt gesehen hatte, seiner Teilnahme Folge zu geben.
Aus Diskretion hatte sich der Inspektor entfernt und las im Staatsanzeiger. Er sah also nicht, wie der Engländer die von Danglars in der Sommerlaube der Reserve geschriebene Denunziation zusammenlegte und einsteckte. Hätte er es aber auch gesehen, so würde er sicher zu wenig Gewicht auf dieses Papier und zu viel auf seine 200 000 Franken gelegt haben, um einzugreifen.
Ich danke, sagte der Engländer, indem er das Register geräuschvoll schloß. Ich weiß, was ich wissen wollte, und nun ist es an mir, mein Versprechen zu halten; erklären Sie schriftlich, daß Sie mir Ihre Schuldforderung für die Summe von 200 000 Franken abtreten, und ich bezahle Ihnen die Summe.
Und während Herr von Boville eiligst die Erklärung aufsetzte, zählte der Engländer auf einem Tischchen die Banknoten auf.
Wer ein paar Jahre früher Marseille verlassen hätte und zu der Zeit, in der Dantes seine Vaterstadt wiedersah, zurückgekehrt wäre, hätte die Verhältnisse des Hauses Morel sehr verändert gefunden.
Statt des Behagens und Glückes, das von einem im Gedeihen begriffenen Hause ausgeht, wäre ihm auf den ersten Blick eine gewisse Trauer und Stille aufgefallen. In den Büros, die früher von zahlreichen Kommis wimmelten, waren nur noch zwei zurückgeblieben. Der eine war ein junger Mann, namens Emanuel Raymond, der die Tochter des Herrn Morel liebte, der andere der alte einäugige Cocles, der den Posten eines Kassendieners bekleidete. In der Stellung des letzteren war eine sonderbare Veränderung eingetreten; er war zugleich zum Range eines Kassierers avanciert und zum Range eines Dienstboten heruntergerückt. Es war aber immer der nämliche Cocles, geduldig, treu und ein Rechner, wie man nicht leicht einen zweiten wiederfinden konnte.
Inmitten der allgemeinen Schwermut, die über dem Hause Morel lagerte, war Cocles übrigens der einzige, der unempfindlich geblieben zu sein schien. Diese Gelassenheit entsprang nicht einem Gefühlsmangel, sondern im Gegenteil einer unerschütterlichen Überzeugung. Als die andern Kommis und Angestellten des Hauses die Büros verlassen hatten, hatte Cocles sie gehen sehen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Er hatte seinen letzten Monatsabschluß fertig gemacht und darin eine Differenz von siebzig Centimes zu Gunsten der Kasse entdeckt, die er am gleichen Tage seinem Prinzipal überbrachte. Der Prinzipal nahm sie mit wehmütigem Lächeln, ließ sie in eine beinahe leere Schublade fallen und sagte zum Kassierer: Gut, Cocles, Sie sind die Perle aller Kassierer.
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