Dieses bestimmte Versprechen schien Caderousse einige Sicherheit zu verleihen. In diesem Falle, versetzte er, will und muß ich Ihnen die Täuschung über diejenigen benehmen, die der arme Edmond für treu und redlich hielt.
Fangen Sie mit seinem Vater an, bitte. Edmond hat mit mir viel von dem Greise gesprochen, für den er eine tiefe Liebe hegte.
Diese Geschichte ist traurig, mein Herr, erwiderte Caderousse seufzend. Sie kennen wahrscheinlich den Anfang?
Ja, versetzte der Abbé, Edmond hat mir die Sache bis zu dem Augenblick erzählt, wo er in einer kleinen Schenke in der Nahe von Marseille verhaftet wurde, und nie hat er eine von den fünf Personen wiedergesehen, die ich Ihnen nannte, nie hat er von ihnen sprechen hören.
Nun wohl, als Dantes einmal verhaftet war, lief Herr Morel weg, um Erkundigungen einzuziehen; sie fielen sehr traurig aus. Der Greis kehrte allein nach Hause zurück, legte weinend seinen Hochzeitsrock zusammen, schritt den ganzen Tag in seinem Zimmer auf und ab und ging abends nicht schlafen; denn ich wohnte unter ihm und hörte ihn die ganze Nacht umhergehen; ich muß sagen, ich schlief selbst auch nicht. Der Schmerz dieses armen Vaters tat mir sehr wehe, und jeder seiner Tritte zermalmte mir das Herz. Am andern Tage kam Mercedes nach Marseille, in der Absicht, den Staatsanwalt um seinen Schutz anzuflehen; sie erreichte nichts; sie besuchte zugleich auch den Greis. Als sie sah, daß er so düster und niedergeschlagen war, daß er die Nacht, ohne sich zu Bette zu legen, zugebracht und seit dem vorhergehenden Tage nichts gegessen hatte, wollte sie ihn mit sich nehmen, um ihn zu pflegen; aber der Greis willigte nicht ein. Nein, sagte er, ich werde das Haus nicht verlassen, denn mich liebt mein armer Sohn vor allen andern, und wenn er aus dem Gefängnis kommt, wird er zuerst zu mir laufen. Was würde er sagen, wenn ich ihn nicht hier erwartete? Ich belauschte dies alles durch die Wand, denn es wäre mir lieb gewesen, Mercedes hätte ihn bestimmt, ihr zu folgen; der Tag und Nacht über mir erschallende Tritt ließ mir keinen Augenblick Ruhe.
Aber gingen Sie denn nicht selbst zu dem Greise hinauf, um ihn zu trösten? fragte der Priester.
Ah! Herr, erwiderte Caderousse, man tröstet nur die, welche getröstet sein wollen, er aber wollte dies nicht. Überdies kam es mir vor, als hätte er einen Widerwillen gegen meinen Anblick. In einer Nacht jedoch, da ich sein Schluchzen hörte, konnte ich nicht widerstehen und ging hinauf; als ich jedoch an die Tür kam, schluchzte er nicht mehr, er betete. Ich kann Ihnen nicht wiederholen, welche beredten Worte, welche erbarmenswerten Bitten er fand; es war mehr als Frömmigkeit, es war mehr als Schmerz; ich, der ich kein Heuchler bin und die Jesuiten nicht liebe, sagte mir auch an diesem Tage: Es ist ein Glück, daß ich allein bin, und daß der liebe Gott mir keine Kinder geschenkt hat, denn wenn ich Vater wäre und empfände einen Schmerz, wie der arme Greis, und könnte weder in meinem Geiste, noch in meinem Herzen finden, was er dem guten Gotte sagt, so stürzte ich mich geradenwegs ins Meer, um nicht länger zu leiden.
Armer Vater! murmelte der Priester.
Von Tag zu Tag lebte er einsamer und abgeschiedener; Herr Morel und Mercedes kamen oft, ihn zu besuchen, aber seine Tür war verschlossen, und er antwortete nicht, obgleich ich bestimmt wußte, daß er zu Hause war. Als er eines Tages, gegen seine Gewohnheit, Mercedes einließ und das arme Kind, selbst in Verzweiflung, ihn zu trösten suchte, sagte er: Glaube mir, meine Tochter, er ist tot . . . und statt daß wir ihn erwarten, erwartet er uns. Ich bin sehr glücklich, denn ich bin älter und werde ihn folglich zuerst wiedersehen.
Bei aller Gutmütigkeit hört man am Ende doch auf, die Menschen zu besuchen, die einen traurig machen; so blieb der alte Dantes zuletzt ganz allein. Ich sah nur noch von Zeit zu Zeit unbekannte Leute zu ihm hinaufgehen, die mit irgend einem schlecht verborgenen Päckchen zurückkamen; ich begriff, welche Bewandtnis es mit diesen Päckchen hatte; er verkaufte nach und nach, was er besaß, um zu leben. Endlich nahm es bei dem guten Mann ein Ende mit seiner armseligen Habe . . . Er war drei Mietzinse schuldig, man drohte ihm mit Hinauswerfen. Er bat um acht Tage Geduld, die man ihm bewilligte. Ich erfuhr diesen Umstand, weil der Hauseigentümer mich gleich darauf besuchte. Während der drei ersten Tage hörte ich ihn wie gewöhnlich auf und ab gehen; am vierten . . . vernahm ich nichts mehr . . . Ich ging hinauf, die Tür war verschlossen; durch das Schlüsselloch sah ich den Greis jedoch so bleich und entstellt, daß ich ihn für sehr krank hielt, Herrn Morel benachrichtigen ließ und zu Mercedes lief. Beide eilten herbei; Herr Morel brachte einen Arzt; der Arzt erkannte eine Magendarmentzündung und verordnete Diät. Ich war dabei, Herr, und werde nie das Lächeln des Greises bei dieser Verordnung vergessen. Von nun an öffnete er seine Tür, er hatte eine Entschuldigung, daß er nicht mehr aß; der Arzt hatte Diät verordnet.
Der Abbé stieß einen Seufzer aus.
Mercedes kam wieder; sie fand ihn so verändert, daß sie ihn wie das erste Mal in ihr Haus bringen lassen wollte. Es war dies auch Herrn Morels Ansicht, der ihn mit Gewalt dorthin schaffen wollte; doch der Greis schrie dergestalt, daß sie Angst bekamen. Mercedes blieb an seinem Bett. Herr Morel entfernte sich, nachdem er Mercedes durch ein Zeichen bedeutet hatte, er lasse eine Börse auf dem Kamine. Aber auf Grund der Verordnung des Arztes wollte der Greis nichts zu sich nehmen. Endlich, nach neun Tagen der Verzweiflung und Enthaltsamkeit, verschied er mit Flüchen für die Urheber seines Unglücks. Zu Mercedes aber sagte er noch: Wenn du meinen Edmond wiedersiehst, so sage ihm, ich sei, ihn segnend, gestorben.
Der Abbé stand auf und ging zweimal im Zimmer auf und ab, wobei er seine zitternde Hand an seine trockene Kehle legte.
Und Sie glauben, er starb . . .
Hungers, mein Herr, Hungers, dafür stehe ich, so wahr wir hier zwei Christen sind, antwortete Caderousse.
Der Abbé ergriff mit krampfhafter Hand noch das halbvolle Glas, leerte es auf einen Zug und setzte sich nieder, die Augen gerötet und die Wangen bleich.
Gestehen Sie, daß dies ein großes Unglück ist, sagte er mit heiserer Stimme.
Um so größer, mein Herr, als es nicht Gott herbeigeführt hat, sondern die Menschen allein schuld daran sind.
Wenden wir uns also diesen Menschen zu, doch vergessen Sie nicht, rief der Abbé mit beinahe drohender Miene, Sie haben mir alles zu sagen versprochen; wer sind die, denen es zuzumessen ist, daß der Sohn vor Verzweiflung und der Vater vor Hunger starb?
Zwei Menschen, die auf ihn eifersüchtig waren, der eine aus Liebe, der andere aus Ehrgeiz, Fernand und Danglars.
Was haben sie aus Eifersucht getan?
Sie denunzierten Edmond als bonapartistischen Agenten.
Welcher von beiden tat es? Welcher von beiden ist der wahre Schuldige?
Beide, Herr; Danglars schrieb die Anzeige mit der linken Hand, um seine Schrift zu verstellen, und Fernand schickte sie ab.
Ja, so ist es, murmelte der Abbé . . . Oh! Faria! Faria! wie gut kanntest du die Menschen! Waren Sie auch dabei?
Ich? versetzte Caderousse erstaunt, wer hat Ihnen gesagt, daß ich dabei war?
Der Abbé sah, daß er zu weit gegangen war, und erwiderte: Niemand; doch um alle diese Einzelheiten so genau zu kennen, müssen Sie notwendig Zeuge gewesen sein.
Das ist wahr, sagte Caderousse mit erstickter Stimme, ich war dabei.
Und Sie haben sich dieser Schändlichkeit nicht widersetzt? Folglich sind Sie ein Mitschuldiger!
Herr, sie hatten mich so trunken gemacht, daß ich beinahe die Vernunft verlor. Ich sah nur noch durch eine Wolke. Alles, was ein Mensch in einem solchen Zustande sagen kann, sagte ich, aber beide erwiderten, sie hätten nur einen Scherz machen wollen, und dieser Scherz hätte keine Folgen.
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