Auf eine Frage des Referatsleiters, wie die beiden Hallen technisch mit dem übrigen Grundstück verflochten seien, kam der Vorschlag, sich dies im Gelände anzusehen. Vor Ort machten wir eine banale Erfahrung: Was auf der Flurkarte vollkommen klar erschien, hatte im Gelände keine Entsprechung. Die exakt bestimmten Grenzen in den Katastern Deutschlands, die das Land zu einem riesigen Flickenteppich aus Hunderttausenden von Flurstücken macht, finden sich in der Natur nicht vor. Wir versuchten uns anhand der auf der Flurkarte eingezeichneten Strassen und der Wassergrenze zu orientieren, konnten aber trotzdem nicht genau bestimmen, wo die Flurstücksgrenzen verliefen. Der technische Leiter der Werft hob hervor, dass die gesamte sichtbare und unsichtbare Infrastruktur des Werftgeländes eine technische Gesamtheit sei, die keine Flurstücksgrenzen kenne. Auf meine Rückfrage räumte er jedoch ein, über kurz oder lang, müssten sowohl die Versorgungsleitungen als auch die Abwasserkanäle erneuert werden. Und auf mein weiteres Insistieren bestätigte er meine Vermutung, dass auch die Werkstraßen in absehbarer Zeit zum Teil neu geführt werden müssten.
Der anschließende Meinungsaustausch war geprägt von Hypothesen. Wie wäre die Rechtslage, wenn ...? Welche Rechtsfolgen träten zwangsläufig ein, wenn diese oder jene Annahme sich als richtig oder als falsch erwiese? Mich erstaunte das hohe Maß an Sachlichkeit bei allen Anwesenden. Keiner versuchte, die Interessen der anderen Seite als fragwürdig darzustellen oder die Tatsachen für die von ihm vertretenen Interessen zu verbiegen. Von Richard hatte ich nichts anderes erwartet. Meine Sorge war eher gewesen, dass er taktische Fehler machen könnte, weil er die wirtschaftliche Entwicklung in Rostock keinesfalls behindern wollte. Er beschränkte sich jedoch zunächst darauf, zu begründen, warum die Nazis seinen Vater als Gegner betrachten mussten. Er habe keinen Zweifel, dass seinem Vater das Grundstück mittelbar verfolgungsbedingt entzogen worden sei. Dies lasse sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus den Gründen des Volksgerichtshofurteils entnehmen. Die seinerzeit für die Rückgabe des Unternehmens in Spandau zuständige Behörde habe überhaupt keine Zweifel daran gehabt, dass der Verlust des Unternehmens eine Folge des Volksgerichtshofurteils war, obwohl das Urteil selbst auch ihr nicht vorgelegen habe. Unabhängig von den Bemühungen des Amtes lasse er seit einigen Monaten in allen auch nur entfernt in Frage kommenden Archiven nach der Prozessakte des Volksgerichtshofes und nach anderen Unterlagen suchen. Zu der Frage, ob die Rückgabe des Grundstücks ausschlaggebend für die weitere Entwicklung der Werft sein könne, meinte er dann etwas sybillinisch: „Wissen Sie, Prognosen über die Unternehmensentwicklung für einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren sind nach meiner eigenen unternehmerischen Erfahrung so hoch spekulativ, dass ich darauf nicht einmal eine Baracke bauen würde.“ Eine typische Richard-Bemerkung. Ohne jede Rücksicht auf die Wirkung für oder gegen seine eigenen Interessen.
Der Geschäftsführer schmunzelte flüchtig, und ich meinte, etwas wie Respekt und Dankbarkeit für die unerwartete Unterstützung aus seinen Zügen lesen zu können. Dann fing er den Ball auf und führte mit großem Ernst aus, er könne nur nach bestem Wissen und Gewissen handeln und planen. Luftschlösser dürfe und wolle er allerdings auch nicht bauen. Man müsse aber berücksichtigen, dass es in der Wirtschaftsgeschichte noch keine vergleichbare Situation gegeben habe. Deshalb müsse man in den neuen Bundesländern den Horizont der Optionen viel weiter ausdehnen als in den alten Bundesländern, wo die Unternehmer auf ihre langjährige Erfahrung zurückgreifen könnten.
Als die Diskussion stockte, bat der Referatsleiter des Landesamtes darum, abschließend den Verfahrensstand unter Berücksichtigung der vor Ort gewonnenen Erfahrungen noch einmal zusammenfassen zu dürfen. Er beschränkte sich auf die wesentlichen Fakten, zeigte auf, wie die Entscheidung des Landesamtes ausfallen könnte, und wies eindrücklich darauf hin, dass mit der Behördenentscheidung die Sache höchstwahrscheinlich nicht ausgestanden sei, weil entweder die eine oder aber die andere Seite Klage beim Verwaltungsgericht erheben werde. Leider müsse man nach der bisherigen Erfahrung damit rechnen, dass ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht mindestens fünf Jahre dauere. Es sei auch nicht auszuschließen, dass es anschließend noch ein Revisionsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gäbe. Von dort könne die Sache wieder an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen werden, weil die untere Instanz nach Ansicht der Bundesrichter den Sachverhalt nicht genügend aufgeklärt hätte, der Rechtsstreit also noch nicht entscheidungsreif sei. Alles in allem könne es bis zu einer endgültigen Entscheidung noch zehn Jahre dauern. Im Interesse aller Betroffenen sei es dringend zu empfehlen, die Angelegenheit durch eine einverständliche Regelung zwischen dem Antragsteller und der Anker Schiffswerft GmbH zu beenden. Dabei müsse die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben als Anteilseigner der Werftgesellschaft mit einbezogen werden.
Keiner der Anwesenden widersprach. Erst als der Referatsleiter konkreter wurde, machte sich Unruhe bemerkbar. Er führte zunächst aus, wie er persönlich die Chance des Antrags bewerte. Danach sei es zwar sehr wahrscheinlich, dass dem Grunde nach ein Anspruch bestehe. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein verfolgungsbedingter Verlust nicht nachgewiesen werden könne, schätze er mit höchstens zwanzig Prozent ein. Dagegen habe er große Bedenken, ob der Werft das antragsbefangene Flurstück, eines von mehreren, aus dem sich das Grundstück zusammensetze, insgesamt weggenommen werden könne. Nach dem Willen des Gesetzgebers habe der Erhalt von Arbeitsplätzen Vorrang vor dem Anspruch auf Rückgabe. Trotz aller Rückschläge bestehe offenbar immer noch eine realistische Chance, einige Hundert Arbeitsplätze zu erhalten. Diese Chance dürfe unter keinen Umständen durch die Rückgabe eines betriebsnotwendigen Grundstücks zunichte gemacht werden. Andererseits sei höchstrichterlich entschieden, dass Teile des zurückverlangten Grundstücks zurückgegeben werden müssten, wenn sie nicht betriebsnotwendig seien und wenn sie nach Abtrennung vom Gesamtgrundstück eigenständige Gegenstände des Rechtsverkehrs sein könnten.
Bei den bekannten Schwierigkeiten, die verschiedenen Gesichtspunkte in Ziffern zu fassen, wolle er dies doch wagen. Und dann begann er mit Zahlen zu jonglieren, dass ich größte Mühe hatte, mir die wichtigsten Ziffern zu notieren. Ausgehend von einem geschätzten Gesamtwert des Grundstücks von rund 4,8 Millionen Mark machte er Abschläge für die vorher erwähnten Risiken, differenzierte dabei nach den festgestellten Nutzungen, nahm für eine zum Verkauf anstehende Fläche eine separate Berechnung vor und wandte auf das Zwischenergebnis noch einen Faktor an, der das unterschiedlich stark ausgeprägte Interesse der Parteien an einer schnellen Regelung berücksichtigen sollte. Und dann nannte er nach einer kurzen taktischen Pause endlich die Zahl, auf die wir alle gewartet hatten: 2,7 Millionen Deutsche Mark. Sein Vorschlag laute also: Die Anker Schiffswerft GmbH zahlt innerhalb eines Monats nach Abschluss der Vereinbarung 2,7 Millionen Deutsche Mark an den Berechtigten. Der Berechtigte erklärt alle Ansprüche hinsichtlich des Grundstücks für abgegolten.
Ich war so mit meinen Notizen beschäftigt, dass ich nicht beobachten konnte, was sich in Richards Gesicht abspielte. Für mich überraschend, versuchten die Vertreter der Werft nicht, die Summe herunterzudrücken. Der Geschäftsführer schien beeindruckt von dem virtuosen Zahlenspiel des Referatsleiters und erklärte sofort sein Einverständnis. Wie zu erwarten, wies er jedoch darauf hin, dass er nur eine Empfehlung im vorgeschlagenen Sinne gegenüber der BvS abgeben könne. Die Entscheidung werde einzig und allein dort getroffen, zumal die Werft den Betrag nicht aus eigenen Mitteln aufbringen könne, da sie ohnehin schon tief bei der BvS in der Kreide stehe. Der Mitarbeiter des Landesamtes setzte nach und bot an, die Einigung sofort schriftlich zu fixieren. Um die BvS ins Boot zu holen, könne der Werft ein Widerrufsrecht von vier Wochen eingeräumt werden. Ich berief mich ohne Absprache mit Richard auf den Grundsatz der Waffengleichheit und verlangte für ihn ebenfalls ein Widerrufsrecht. Ein kurzes Nachhutgeplänkel ohne ernsthafte Gefahr. Nachdem der Geschäftsführer versprochen hatte, den Vorschlag des Landesamtes noch am gleichen Tag der BvS zu unterbreiten, beließen wir es schließlich bei den gegenseitigen mündlichen Absichtserklärungen.
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