„War das eine spontane Entscheidung, beide zu nehmen?“ Wulvsen setzte sich gerade hin und legte seine Hände auf den Schreibtisch. Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden.
„Was heißt schon spontan? Vor ein paar Tagen hatte ich diese Idee ...“ Er überlegte und sah Rehbein dabei genau an, doch die hielt seinem Blick stand. Und dann ließ er seine scheidende Sekretärin einen kleinen Einblick in seine zukünftige Strategie nehmen, ohne zu viel preiszugeben, doch das wäre ohnehin nicht gegangen, denn was er Schritt für Schritt vollziehen würde, entsprang gar keinem konkreten und detailreichen Plan, sondern geschah, wie das manchmal bei ihm vorkam, völlig intuitiv vor dem Hintergrund einer vagen Idee, aber diesmal spielte nicht nur sein Bauchgefühl eine Rolle, sondern auch sein Unterbewusstsein, das bestimmte Ahnungen hatte, und noch etwas anderes, das sollte ihm später klarwerden. „Die Damen werden mehr sein müssen als Sekretärinnen, so denke ich mir das zumindest. Die Firma ist zu groß geworden, als dass ich mit einem Sekretariat herkömmlicher Art auskäme.“ Jetzt grinste er wieder. „Aber sagen Sie ihnen nichts; sonst werden sie noch übermütig.“ Rehbein nickte, weil sie glaubte, etwas verstanden zu haben und sah zu Boden.
„Danke.“, sagte sie leise.
„Wofür?“, fragte der Alte erstaunt.
„Dass Sie mit der Umstrukturierung gewartet haben, bis ich in Pension gehe.“, flüsterte sie, meinte aber durchaus noch mehr. Wulvsen schüttelte leis den Kopf, stand auf und stellte sich vor Rehbein. Gut, dann wäre der Zeitpunkt für klärende Worte eben jetzt gekommen. Er fasste sie an den Oberarmen und sah sie ernst an.
„Ich habe nicht gewartet. Wenn ich diese Idee eher gehabt hätte, und ich hätte sie viel eher haben müssen, wären Sie auf jeden Fall mit dabei gewesen, glauben Sie mir. Und zwar nicht als Sekretärin, ich weiß schließlich, was Sie können. Ich wollte Sie mit diesem Schritt zu diesem Zeitpunkt nicht brüskieren. Sie glauben gar nicht, wie wertvoll Sie für mich waren all die Jahre. Nein, es war reiner Zufall, dass ich vor ein paar Tagen auf diesen Gedanken gekommen bin.“
Rehbein glaubte ihrem Chef, denn wenn er eines nicht täte, dann wäre das, nicht die Wahrheit zu sagen, das wusste sie besser als kaum ein anderer, und dass er sie schätzte, hatte er mehr als einmal deutlich gemacht. Sie würde alles dafür tun, dass die beiden netten Frauen die nächsten Wochen durchhielten.
„So, da sind wir.“ Das internationale Duo stand etwas unschlüssig in dem riesigen Vorzimmer und sah sich interessiert um. Beeindruckend fanden sie das Panoramafenster, das die Außenwand des Raumes darstellte und einen weiten Blick über die Stadt bot. Rehbein blickte mit ihren hellblauen, wachen Augen auf, lächelte flüchtig und dann setzten sie sich zu dritt an einen kleinen Besprechungstisch. Rehbein zögerte etwas, denn sie war ein wenig ratlos, weil mit der geplanten Modifizierung des Vorzimmers sicherlich auch eine Veränderung der von dort zu erledigenden Aufgaben einhergehen würde. Genaueres wusste sie aber natürlich nicht, denn schließlich hatte Wulvsen keine weiteren Erläuterungen von sich gegeben. Vielleicht wusste er selbst noch nichts Genaues, das traute Rehbein ihrem Chef durchaus zu. Wulvsen hatte in der Vergangenheit schon des Öfteren etwas angestoßen, ohne ein ganz konkretes Ziel vor Augen gehabt zu haben, hatte in den in Gang gesetzten Prozess steuernd eingegriffen, und irgendwann hatte es ein Ergebnis gegeben, das nie enttäuschend gewesen war. Wenn er also erst vor ein paar Tagen diese Idee gehabt hatte, würde er die Dinge sich vielleicht einfach entwickeln lassen, vermutete Rehbein. Sie räusperte sich.
„Morgen wird hier ein zweiter Schreibtisch stehen, den Sie sich erstmal teilen müssen, bis ich weg bin, das wird aber gehen. In den nächsten Tagen können Sie zu Hause alles abwickeln, die Firma hilft Ihnen dabei. Das Geschäft kennen Sie ja, Sie haben ja bisher auch schon Ähnliches gemacht, nur eben etwas weniger wichtig, ein paar Nummern kleiner. Hier wird es für Sie im Wesentlichen darauf ankommen, ihm den Rücken freizuhalten, seine Zeit zu managen, Entscheidungen vorzubereiten …“
„Machen das nicht die Fachabteilungen?“, unterbrach sie Olsson.
„Sie werden bald schon merken, dass die Fachabteilungen nur zuarbeiten, Sie müssen diese Zuarbeit für ihn vorbereiten und aufbereiten; es gibt da so ein Berichtssystem, das er erfunden hat, ich werde es Ihnen erklären; die Entscheidungen fällt Herr Doktor Wulvsen. Und zwar ausschließlich alleine. Sie werden das bald merken. Sie werden auch bald merken, dass das hier alles etwas anders ist als Sie es gewohnt sind. Natürlich gibt es die normalen Sekretariatsaufgaben, wie Sie sie kennen, die werden aber im wesentlichen von einem weiteren Büro wahrgenommen, das Ihnen zuarbeiten wird. Wichtig ist die Koordinierung der Termine, und das hängt in gewisser Weise auch mit seiner Disposition zusammen, also, wie er gerade drauf ist, wie man heute sagt. Sie müssen da sehr flexibel sein und gut aufpassen.“, erklärte Rehbein geheimnisvoll.
„Wie sollen wir feststellen, wie er drauf ist?“
„Oh, seinen Gemütszustand kann man sehr schnell feststellen, zumindest hier, im fast persönlich-privaten Bereich. Bei offiziellen Terminen kann er aus seinem Herzen schon mal eine Mördergrube machen, wenn es notwendig ist, und notwendig ist, was der Firma dient.“
„Hier ist das anders?“
„Ja.“, nickte Rehbein ernst. „Irgendwo muss er sich ja mal … natürlich geben können.“
Esteban legte den Kopf schräg.
„Sie sagen das so eigenartig.“ Rehbein nickte.
„Sie werden es sowieso bald merken. Er lässt seinen Emotionen manchmal freien Lauf.“
„Soll das heißen, dass er, äh, dass er sich hier abreagiert?“
„Weint?“, ergänzte Olsson schnell. Rehbein sah die beiden ernst an.
„Emotionen bestehen bei ihm meistens aus Wut. Weinend habe ich ihn jedenfalls noch nicht erlebt.“ Die Neuen wurden bleich.
„Das heißt, wir sollen so eine Art Blitzableiter sein? Tritt er dann Türen ein?“, empörte sich Olsson.
„Neinnein.“, beschwichtigte Rehbein und wusste, dass sie jetzt den Pfad der Wahrheit ein wenig verlassen müsste, denn sie wollte unbedingt, dass die beiden jungen Frauen ihre Chance erhielten. „Sie selbst werden nicht Gegenstand seiner Wut werden, wenn Sie sich tadellos verhalten. Er ist nicht ungerecht. Aber Sie müssen seine Stimmungen einzuschätzen lernen und lernen, was Sie ihm wann zumuten können.“
„Oder wen.“, ergänzte Esteban, wozu Rehbein zustimmend nickte.
„Was ist er für ein Mensch?“, wollte Tonia sanft wissen. Rehbein lachte kurz.
„Er passt in keine Kategorie. Sie hatten eben im Gespräch auf die Arbeitsatmosphäre hingewiesen. Es wird schwierig für Sie. Erwarten Sie keine Liebenswürdigkeiten oder Komplimente. Er hat seine eigene Art, Danke zu sagen oder zu loben.“
„Wann werden wir ihn kennenlernen?“ Rehbein lächelte hintergründig und antwortete ausweichend, weil sie ja vom Alten hierzu keine konkrete Aussage erhalten hatte.
„Die wenigsten hier sind ihm schon einmal persönlich begegnet. Sicher, die Leiter der Auslandsniederlassungen kennen ihn, die Abteilungsleiter hier, und einige, die öfter mit ihm persönlich zu tun haben, aber sonst kaum jemand. Jedenfalls nicht bewusst.“
„Weiß er denn dann überhaupt, was in seinem Konzern geschieht? Ich meine, wirklich, und nicht nur auf dem Papier, wenn er sich nicht blicken lässt?“ Ella wirkte empört und wieder spielte ein eigenartiges Lächeln um Rehbeins Mundwinkel.
„Sie können sicher sein, dass er mehr weiß, als irgend jemand ahnt, auch wenn die Standorte auf der ganzen Welt verteilt sind. – Auf jeden Fall müssen Sie damit rechnen, dass er sich in den nächsten Wochen etwas rar macht und ihre Zusammenarbeit mit ihm erst richtig beginnt, wenn ich nicht mehr da bin. Die ersten sechs Wochen sind für Sie entscheidend, steht übrigens in Ihrem Vertrag. Wenn ich mein OK gebe, sind Sie drin.“
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