»Ja gewiß!« sagte die Mutter mit einer Stimme, vor der sie selbst erschrak, denn sie schien ihr von einem Geiste in ihr herzurühren, der kein Teil von ihr selbst war; und der Kleine ließ sein müdes Köpfchen auf ihre Schultern sinken und war bald eingeschlummert. Wie die Berührung dieser warmen Arme, der sanfte Atem, der ihren Hals traf, ihren Bewegungen mehr Feuer und Leben zu geben schien! Es war ihr, als ob elektrische Ströme von jeder sanften Bewegung des schlummernden vertrauenden Kindes sich ihr einflößten. Erhaben ist die Herrschaft der Seele über den Körper, die eine Zeitlang Fleisch und Nerv dem Schmerze unzugänglich und die Sehnen wie Stahl machen kann, so daß die Schwachen gewaltig werden.
Die Grenzen der Farm, der Park, der Wald flogen wie im Schwindel an ihr vorüber, wie sie weiterschritt; und immer ging sie weiter und ließ einen vertrauten Gegenstand nach dem andern hinter sich, ohne langsamer zu gehen oder still zu stehen, bis das rote Morgenlicht sie manche lange Meile von allen Spuren vertrauter Gegenstände auf der offenen Heerstraße fand.
Sie war mit ihrer Herrin oft zum Besuch bei einigen Bekannten in dem kleinen Dorf T. nicht weit vom Ohio gewesen und kannte den Weg dahin genau. Dorthin zu gelangen und über den Ohio sich zu retten, das waren die ersten flüchtigen Umrisse ihres Fluchtplans; darüber hinaus konnte sie nur auf Gott hoffen.
Als Pferde und Wagen sich auf der Landstraße zeigten, merkte sie bald mit dem raschen Scharfblick, der einem Zustand der Aufregung eigentümlich ist und der eine Art Inspiration zu sein scheint, daß ihre ungestüme Eile und ihr verstörtes Wesen Aufsehen und Verdacht erregen könnten. Sie setzte deshalb den Knaben auf die Erde, ordnete ihren Anzug und ihren Hut und ging nun so rasch weiter, als sie es zur Bewahrung des Scheins für notwendig hielt. In ihrem kleinen Bündel hatte sie einen Vorrat Kuchen und die Äpfel mitgenommen, welche sie als Mittel benutzte, die Schritte des Kindes zu beschleunigen. Sie kollerte nämlich den Apfel ein paar Fuß voraus, wo dann der Knabe mit aller Macht danach zu laufen pflegte; und diese oft wiederholte List brachte sie über manche halbe Meile hinweg.
Nach einer Weile erreichten sie ein Gehölz, durch welches murmelnd ein klarer Bach floß. Da das Kind über Hunger und Durst klagte, kletterte sie mit ihm über die Fence, setzte sich hinter einen großen Stein, der sie den Blicken der Vorübergehenden ganz und gar verbarg, und gab ihm Frühstück aus ihrem kleinen Päckchen. Der Knabe war verwundert und betrübt, daß sie nicht essen konnte, und als er seine Ärmchen ihr um den Hals schlang und versuchte, ihr ein Stück von seinem Kuchen in den Mund zu stecken, war es ihr, als ob es ihr das Herz abdrücken wollte. »Nein, nein, mein Herz! Die Mutter kann nicht eher essen, als bis du in Sicherheit bist! Wir müssen weiter, weiter, bis wir den Fluß erreichen!« Und sie eilte abermals auf die Straße und zwang sich wieder, ruhig und gefaßt vorwärts zu schreiten.
Die Gegenden, wo sie persönlich bekannt war, lagen nun schon mehrere Meilen hinter ihr. Wenn sie zufällig jemand begegnen sollte, der sie kannte, so beruhigte sie sich mit dem Gedanken, daß die allbekannte Menschlichkeit der Familie schon an und für sich jeden Verdacht fernhalten würde, da dieser Umstand es unwahrscheinlich machte, daß sie auf der Flucht sei. Da sie außerdem so weiß war, daß man ihre Negerabstammung ohne eine sehr genaue Prüfung nicht erriet und ihr Kind ebenfalls weiß war, so wurde es ihr viel leichter, ohne Verdacht zu erregen, ihres Wegs zu gehen.
In dieser Voraussicht machte sie mittags in einem netten Farmhaus halt, um auszuruhen und für ihr Kind und sich etwas zu essen zu kaufen, denn da die Gefahr mit der Entfernung abnahm, verminderte sich die übernatürliche Spannung ihrer Nerven, und sie wurde bald hungrig.
Die gute Farmersfrau, eine freundliche, schwatzhafte Seele, schien eher froh zu sein, jemand zu haben, mit dem sie plaudern konnte, und glaubte ohne weitere Prüfung Elisas Aussage, daß sie einen kleinen Ausflug mache, um eine Woche bei ihren Freunden zu verleben – was, wie sie in ihrem Herzen hoffte, sich am Ende als die strengste Wahrheit herausstellen würde.
Eine Stunde vor Sonnenuntergang erreichte sie das Dorf T. am Ohio müde und mit wunden Füßen, aber immer noch stark im Herzen. Ihr erster Blick galt dem Flusse, der wie der Jordan zwischen ihr und dem Canaan der Freiheit auf der anderen Seite dahinströmte.
Es war noch früh im Lenz und der Fluß war angeschwollen und gefährlich; große Schollen Eis wälzten sich schwer in den trüben Gewässern. Infolge der eigentümlichen Gestaltung des Ufers auf der Kentuckyseite, die einen nach jenseits vorspringenden großen Bogen bildet, hatte sich das Eis in großen Massen festgerannt, und der enge Kanal, welcher den Bogen umfloß, war ebenfalls voller Eis, daß Scholle auf Scholle getürmt einen Damm für das herschwimmende Eis bildete, welches nun, ein großes, schwankendes Floß, den ganzen Fluß bedeckte und sich fast bis zum Kentuckyufer ausdehnte.
Elisa stand einen Augenblick da, in Betrachtung dieses ungünstigen Zustandes der Dinge versunken, der, wie sie auf den ersten Blick sah, das gewöhnliche Fährboot abhalten mußte, hier überzufahren, und trat dann in ein kleines Wirtshaus am Ufer, um Nachfrage anzustellen.
Die Wirtin, die über dem Feuer mit Braten und Schmoren zum Abendessen beschäftigt war, hielt, eine Gabel in der Hand, inne, als sie Elisas wohltönende und klagende Stimme vernahm.
»Was gibt's?« sagte sie.
»Ist hier keine Fähre oder kein Boot zu bekommen, um hinüber nach B...y zu fahren?« sagte sie.
»Nein«, sagte die Frau, – »die Boote fahren nicht mehr.«
Der Ausdruck von erschrockener Überraschung und getäuschter Hoffnung, der Elisas Gesicht annahm, fiel der Frau auf, und sie forschte.
»Sie wollen vielleicht hinüber – jemand krank? Es scheint Ihnen sehr zu Herzen zu gehen.«
»Ich habe ein Kind drüben, das sehr gefährlich krank ist«, sagte Elisa. »Ich bekam erst gestern spät abends die Nachricht und bin heute schon eine große Strecke gegangen, um die Fähre zu erreichen.«
»Das trifft sich wahrhaftig recht unglücklich«, sagte die Frau, deren mütterliche Teilnahme auf der Stelle geweckt war. »Sie tun mir wirklich leid. Solomon!« rief sie aus dem Fenster nach einem kleinen Hintergebäude zu. Ein Mann mit einem Schurzfell und sehr schmutzigen Händen erschien in der Tür.
»Sol«, sagte die Frau, »wird der Fährmann wohl heute nacht noch die Fässer hinüberbringen?«
»Er sagt, er wolle es versuchen, wenn es nicht gar zu gefährlich wäre«, sagte der Mann.
»Ein Mann wohnt hier ein Stück weiter unten, der heute abend etwas über den Fluß bringen will, wenn er es wagen kann; er wird zum Abendessen hierher kommen, und Sie tun daher am besten, Sie setzen sich hier und warten auf ihn. Was für ein allerliebstes Kind!« sagte die Frau und bot ihm einen Kuchen.
Aber das Kind, ganz erschöpft, fing an vor Müdigkeit zu weinen.
»Das arme Kind! Es ist das Gehen nicht gewöhnt, und ich bin so rasch mit ihm gelaufen«, sagte Elisa.
»Hier legen Sie ihn in das Zimmer«, sagte die Frau und öffnete ein kleines Schlafgemach, wo ein bequemes Bett stand. Elisa legte den müden Knaben darauf und ließ seine Hände in den ihren, bis er fest eingeschlummert war. Sie selbst kannte keine Ruhe. Wie ein inneres Feuer trieb sie der Gedanke an ihren Verfolger weiter, und sie blickte mit sehnsüchtigem Auge auf die trüben wilden Wogen, die zwischen ihr und der Freiheit strömten.
Hier müssen wir von ihr für jetzt Abschied nehmen, um uns nach ihren Verfolgern umzusehen.
Obgleich Mrs. Shelby versprochen hatte, daß das Essen sogleich auf den Tisch kommen solle, so stellte es sich doch bald heraus, wie es schon oft geschehen ist, daß zu einem Handel zwei gehören. Obgleich der Befehl vor Haleys Ohr erteilt war und wenigstens ein halbes Dutzend jugendliche Boten ihn der Tante Chloe überbracht hatten, so gab diese wichtige Person ihre Willensmeinung doch nur durch mehrmaliges heftiges Schnauben und Kopfschütteln zu erkennen und verrichtete jede einzelne Operation in einer ungewöhnlich saumseligen und umständlichen Weise.
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