Er war auf die kleine Familie aufmerksam geworden, als der Vater auf einem kleinen Markt seine Brieftasche gezückt und dabei versehentlich mehrere große Geldscheine hatte aufblitzen lassen. Die würde er sich unter den Nagel reißen. Er würde sich einfach den Jungen greifen, ihn ein wenig mit seinem Messer bedrohen, und schon würde sein Vater kuschen. Es war ein routinierter Ablauf für ihn. Und während er im Schatten der glühenden Stadt lauerte, offenbarte sich auch schon die Gelegenheit. Die Frau zog den Mann in eine Seitenstraße.
„Dort muss es sein, Robert“, sagte seine Mutter, Lisa Mayer, aufgeregt. Jamie rollte mit den Augen. Sein Vater hatte deutsche Vorfahren, daher der Nachname, obwohl sie aus England stammten. Jamie störte das nicht. Es gab schlimmere Namen als Jamie Mayer. Vielmehr hingegen störte ihn Rom, oder jedenfalls die Erkundungstouren, die seine Eltern ihm aufzwangen und die ihn wie auf einer Odyssee durch die Innenstadt trieben. Er starrte seine Mutter an, wie sie seinem Vater hitzig den Aufbau einer Therme erklärte, wo dieser doch mehr über Thermen wusste, als über sein eigenes Bad zu Hause. Zunächst noch hatte ihn die Aufgeregtheit seiner Eltern noch belustigt, nun jedoch fand er sie gar nicht mehr sonderlich amüsant. Seine Mutter, eine kleine, zierliche und hübsche Frau, lehrte Geschichte an einer renommierten Londoner Universität und hatte schon immer von einem Familienurlaub nach Rom geträumt. Auch sein Vater war dieser Idee inbrünstig verfallen. Äußerlich war er das genaue Gegenteil seiner Frau: blond, bullig groß und mit einem kurzen Kinnbart, den er trug, weil Jamie ihn davon hatte überzeugen können, dass alle Archäologen, die sich mit antiken römischen Artefakten befassten, ohne einen solchen Bart nicht ernst genommen werden könnten. Allerdings hatte dies zum genauen Gegenteil des Beabsichtigten geführt: Jamie fand, dass er damit aussah wie ein untalentierter Zauberer, der auf Kindergeburtstagen schlecht geformte Luftballontiere an buhende Kinder aushändigt. Trotzdem redete er seinem Vater weiterhin gut zu, wenn dieser auch nur den leisesten Anflug von Zweifel zeigte.
Jamie war fünfzehn Jahre alt, weder klein noch groß, und hatte relativ kurzes, wuscheliges dunkelblondes Haar, das sich partout nicht zähmen ließ. Aus seinem für sein Alter übermäßig kantigen Gesicht ragte eine spitze Nase mit einigen Sommersprossen hervor, die sich jedoch nur in den Sommermonaten zeigten, und zwei intensiv leuchtende grüne Augen schwenkten lässig hin- und her. Seine Ohren standen ein wenig ab, aber diesen kleinen Makel konnte er verkraften. Man schätzte ihn oft als etwas älter ein, obwohl er selbst nicht so empfand. Er war einfach ein ganz normaler Junge.
„Weißt du überhaupt, was das für Gebäude sind?“, fragte seine Mutter und sah Jamie mit hochgezogenen Brauen an. Er war nie gut in Geschichte gewesen, aber das nur, weil Schularbeit ihn generell nicht interessierte.
„Heh?“, fragte er und zog mit fragendem Blick seine Ohrenstöpsel aus den Ohren, obwohl gar keine Musik lief.
„Diese Gebäude. Wie nennt man sie?“, fragte seine Mutter in ihrem spitzfindigen Lehrertonfall und deutete auf ein Haus hinter sich.
„Ne Therme? Ist doch sch..." Plötzlich machte es einen Ruck und Jamie spürte, wie sich ein fester Griff um seinen Oberkörper schloss. Er wusste sofort, was vor sich ging. Seine Mutter schrie auf.
„Halt´s Maul“, rief ein Mann mit starkem südländischem Akzent, nah an Jamies Ohr, „sonst schneide ich deinem Jungen die Ohren ab!“ Jamie spürte etwas bedrohlich Kaltes, Scharfes an seinem Hals entlangfahren, ohne Zweifel war es die stumpfe Seite eines Messer. Es lief ihm heiß über den Rücken. Alles war so schnell gegangen, dass er nicht hatte reagieren können.
„Geld her“, zischte der Mann roh, „und Schmuck und I-pod. Los, sonst brauchst du das Ding sowieso nicht mehr.“ Eine seltsame Art Zorn stieg in Jamie auf, verflog aber sofort wieder und verwandelte sich in quälende Machtlosigkeit.
„Hast du nicht gehört, man? Beweg dich!“ Jamie sah in das Gesicht seines überrumpelten Vaters, der vor Angst gelähmt schien. Dieser Anblick löste es aus.
Er spürte etwas in sich aufwallen, fremd und doch seltsam vertraut. Die scharfe Kante des Messers begann zu vibrieren. Dann löste sich der Druck auf seiner Haut ganz auf und eine pappige Flüssigkeit lief an seinem Hals hinab. Einen schrecklichen Moment lang dachte er, es sei Blut, doch es war dickflüssiger, fast wie eine noch nicht getrocknete Betonmischung.
„Che diav…?“, stöhnte der Mann entsetzt auf und sah irritiert auf das Messer hinab, beziehungsweise auf das, was davon noch übrig war. Die Metallklinge war nun nicht mehr als solche zu erkennen. Sie schmolz so schnell wie Eis im Ofen, und die Überreste liefen kriechend an dem Jungen hinunter. Fassungslosigkeit ergriff ihn. „Che…?!“ Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte er den Griff um Jamie, was dieser sofort nutzte. Er rammte dem Mann mit einem beherzten Schlag den Ellbogen in den Magen und wand sich geschickt aus der Umklammerung. Sirenen heulten in der Ferne auf, und der vollkommen überforderte Mann richtete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.
„Verschwinde lieber“, zischte Jamie ihn an und klang dabei weitaus gefährlicher, als er sich fühlte. Doch die Aufforderung war überflüssig, denn der Mann drehte bereits ab und verschwand so schnell er konnte. Zurück blieb nur eine Pfütze der dicken Metallpampe, die sich mit dem Alltagsstaub Roms vermischte. Langsam schob sie sich auf den Gully zu.
„Was…war das denn?“, stammelte sein Vater, sichtlich konfus.
„Ich habe keine Ahnung“, erwiderte seine Mutter nicht minder mitgenommen, „es muss wohl ein Plastikmesser oder so etwas gewesen sein. Sonst kann ich mir wirklich nicht erklären, wie…“ Sie kam auf Jamie zu und schloss ihn fest in die Arme. "Aber es ist ein Geschenk des Himmels!" Jamie sagte nichts, wischte den restlichen Schmodder von seinem Hals und schaute nach wie vor gedankenverloren zu der geschwürartigen Paste am Boden hinab. Sein Magen schnürte sich weiter zu. Aber nicht wegen des Überfalls. Das Messer war nicht aus Plastik gewesen, sondern aus purem Metall, und auch die Polizeisirenen waren nicht echt gewesen. Dies war kein Geschenk des Himmels, sondern etwas viel Unerklärlicheres. Er, Jamie, hatte das Messer zum Schmelzen gebracht und die Polizeisirenen ertönen lassen. Diese Fähigkeiten waren nicht zum ersten Mal aufgetreten, und sie waren der Grund, warum er sich nie wie ein normaler Junge hatte fühlen können. Beunruhigt wandte er den Blick ab und erwiderte den Druck seiner ihn im Arm haltenden Mutter. Wenn er ehrlich war, wusste er in diesem Moment nicht, wovor er mehr Angst hatte: vor diesem Mann oder sich selbst.
Jamie lag auf seinem Bett in London und beobachtete gelangweilt die Schatten, die von den Scheinwerfern eines startenden Autos an die Decke projiziert wurden. Das monotone, doch kurios rhythmische Prasseln an seinem Fenster verriet ihm, dass es stark regnen musste.
In weniger als zwei Stunden würde die Schule wieder beginnen. Seltsamerweise freute er sich mehr denn je auf den Schulbeginn, denn er hoffte, dass er ihn vom ständigen Grübeln ablenken konnte, das die ewig gleichen Bilder wie in einem voraussehbaren Film wieder und wieder durch seinen Kopf jagen ließ. Der Geruch des Mannes, die Furcht in den Augen seines Vaters, die warme Flüssigkeit.
Gähnend setzte sich Jamie auf. Durch die Schlitze seiner Jalousien fielen die Lichter einer zu stark eingestellten Straßenlaterne in den Raum, und Jamie betrachtete sie so eingehend, bis es ihm die Sinne raubte.
Das Ganze war nun schon eine Woche her. Seitdem fragte er sich in jeder Sekunde, was er da getan hatte und woher es kam. Doch er fand keine Antworten. Es gab keine Erklärung. Aber er hatte es sich nicht nur eingebildet.
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