»Ach, was sind Sie für gemeine Menschen!«
Vielleicht war ihr das Weinen nahe, aber es geschah etwas ganz anderes: sie holte aus und versetzte mit ihrer kleinen, mageren Hand dem Studenten eine Ohrfeige, wie sie geschickter vielleicht noch nie jemandem gegeben worden ist. Es klatschte nur so! Er wollte schimpfen und sich auf sie stürzen, aber ich hielt ihn zurück, und das Mädchen fand Zeit davonzulaufen. Als wir allein geblieben waren, gerieten wir sofort miteinander in Streit: ich sprach alles aus, was sich während dieser ganzen Zeit in mir an Unzufriedenheit angesammelt hatte; ich sagte ihm, er sei ein Typ von kläglicher Unbegabtheit und Mittelmäßigkeit und habe nie die geringste Spur einer Idee besessen. Er belegte mich mit Schimpfworten ... (ich hatte ihm einmal von meiner illegitimen Herkunft Mitteilung gemacht), dann spuckten wir voreinander aus, und seitdem habe ich ihn nicht wieder gesehen. An jenem Abend war ich sehr ärgerlich, am andern Tag schon nicht mehr so sehr, und am dritten hatte ich die ganze Sache vergessen. Und sollte man es glauben: ich dachte zwar nachher noch manchmal an dieses junge Mädchen, aber doch nur gelegentlich und flüchtig. Erst nach meiner Ankunft in Petersburg (ich mochte wohl schon vierzehn Tage da sein) erinnerte ich mich auf einmal an diese ganze Szene und schämte mich plötzlich so sehr, daß mir buchstäblich die Tränen der Scham über die Wangen liefen. Der Gedanke daran quälte mich den ganzen Abend und die ganze Nacht und quält mich mitunter auch jetzt noch. Ich konnte anfangs gar nicht begreifen, wie es überhaupt möglich gewesen war, daß ich mich damals so unwürdig und gemein benommen hatte, und besonders, daß ich diesen Vorfall vergessen, mich seiner nicht geschämt und ihn nicht bereut hatte. Erst jetzt ist es mir klargeworden, woran das lag: schuld daran war meine »Idee«. Um es kurz zu machen, ich komme zu folgender Schlußfolgerung: wenn jemand einen feststehenden, dauernden, starken Gedanken im Kopf hat und von ihm völlig in Anspruch genommen ist, dann wird er dadurch gewissermaßen aus der Welt in die Einöde versetzt, und alles, was geschieht, gleitet nur flüchtig an ihm vorüber, an der Hauptsache vorbei. Selbst die äußeren Eindrücke werden nicht in normaler Weise aufgenommen. Und das wichtigste ist außerdem, daß man immer eine Ausrede hat. Wie oft peinigte ich in dieser Zeit meine Mutter, und in wie schmählicher Weise ließ ich meine Schwester unbeachtet: ›Ach was, ich habe meine »Idee«, alles andere sind Bagatellen!‹, so ungefähr sagte ich im stillen zu mir. Ich selbst wurde beleidigt, schwer beleidigt, ich ging beleidigt davon, und dann sagte ich plötzlich zu mir selbst: ›Ach was, ich nehme eine unwürdige Stellung ein, aber ich habe doch meine »Idee«, und davon wissen die anderen nichts.‹ Die »Idee« tröstete mich in Schande und Erniedrigung; aber auch alle meine Schändlichkeiten versteckten sich hinter der »Idee«; sie machte mir sozusagen alles leichter, jedoch breitete sie auch vor meine Augen eine Art Nebel; aber eine so unklare Auffassung der Ereignisse und Dinge kann natürlich auch der »Idee« selbst schädlich werden, von anderem ganz zu schweigen.
Jetzt das zweite Geschichtchen.
Marja Iwanowna feierte am ersten April vorigen Jahres ihren Namenstag. Am Abend waren einige Gäste da, nur sehr wenige Personen. Auf einmal kommt Agrafena ganz atemlos herein und sagt, im Flur vor der Küche schreie ein ausgesetztes kleines Kind und sie wisse nicht, was sie tun solle. Diese Nachricht regte alle sehr auf, alle gingen hin und sahen einen Spankorb und in dem Spankorb ein drei oder vier Wochen altes, wimmerndes kleines Mädchen. Ich nahm den Korb auf, trug ihn in die Küche und fand sogleich einen zusammengefalteten Zettel: »Liebe Wohltäter, erweist diesem kleinen, auf den Namen Arina getauften Mädchen wohlwollende Hilfe; dann werden wir und sie lebenslänglich unsere Tränen zum Thron Gottes hinaufsenden, und wir wünschen Euch auch Glück zum Namenstag. Leute, die Ihr nicht kennt.« Aber nun brachte mich der von mir so hochgeachtete Nikolai Semjonowitsch sehr auf: er machte ein sehr ernstes Gesicht und erklärte, die Kleine müsse unverzüglich ins Findelhaus geschickt werden. Ich wurde sehr traurig. Sie lebten sehr ökonomisch, hatten aber keine Kinder, und Nikolai Semjonowitsch war immer froh darüber. Ich nahm die kleine Arinotschka behutsam aus dem Korb heraus und hob sie an den Schulterchen in die Höhe; aus dem Korb kam ein säuerlicher, scharfer Geruch, wie er Säuglingen, die lange Zeit nicht gewaschen sind, eigen ist. Nachdem ich mich eine Weile mit Nikolai Semjonowitsch gestritten hatte, erklärte ich ihm plötzlich, ich würde das kleine Mädchen auf meine Kosten aufziehen. Dem widersetzte er sich trotz all seiner sonstigen Milde doch mit einiger Strenge, und obwohl er mit einem Scherz schloß, hielt er seine Absicht hinsichtlich des Findelhauses doch mit aller Kraft aufrecht. Dennoch geschah es nach meinem Willen; auf demselben Hof, aber im andern Nebengebäude, wohnte ein sehr armer Tischler, ein schon bejahrter, trunksüchtiger Mann; seiner Frau aber, einem noch ziemlich jungen, sehr gesunden Weib, war soeben ein Säugling gestorben und, was die Hauptsache war, das einzige Kind, das ihnen nach achtjähriger kinderloser Ehe geboren war, ebenfalls ein Mädchen und infolge eines seltsamen glücklichen Zufalls ebenfalls eine Arinotschka. Ich sage: infolge eines glücklichep Zufalls, denn als wir in der Küche miteinander stritten, kam diese Frau, die von dem Ereignis gehört hatte, herbeigelaufen, um das Kindchen anzusehen, und als sie hörte, daß es eine Arinotschka sei, wurde sie ganz gerührt. Die Milch war ihr noch nicht vergangen; sie machte ihre Brust frei und legte das Kind daran. Ich setzte ihr mit Bitten zu, sie möchte das Kind zu sich nehmen, ich würde ihr monatlich dafür bezahlen. Sie fürchtete, ihr Mann würde es vielleicht nicht erlauben, nahm das Kind aber doch für diese Nacht mit. Am Morgen erlaubte es der Mann für acht Rubel monatlich, und ich bezahlte ihm diesen Betrag gleich für den ersten Monat im voraus; er vertrank das Geld sofort. Nikolai Semjonowitsch, der immer noch sonderbar lächelte, erklärte sich bereit, dem Tischler gegenüber dafür zu bürgen, daß ich das Geld, die acht Rubel monatlich, pünktlich bezahlen würde. Ich wollte Nikolai Semjonowitsch, um ihn sicherzustellen, meine sechzig Rubel einhändigen, aber er nahm sie nicht an; übrigens wußte er, daß ich Geld besaß, und traute mir. Durch dieses taktvolle Benehmen von seiner Seite wurde unser momentaner Zwist ausgeglichen. Marja Iwanowna sagte nichts, wunderte sich aber darüber, daß ich eine solche Sorge auf mich nahm. Besonders hoch rechnete ich ihnen das Taktgefühl an, das sie darin bewiesen, daß Sie sich beide nicht den geringsten Scherz über mich erlaubten, sondern vielmehr von da an die Sache so ernst behandelten, wie es sich gehörte. Ich lief alle Tage etwa dreimal zu Darja Rodiwonowna, und eine Woche darauf schenkte ich ihr persönlich insgeheim ohne Wissen ihres Mannes noch drei Rubel. Für weitere drei Rubel kaufte ich eine kleine Bettdecke und Windeln. Aber nach zehn Tagen wurde Rinotschka auf einmal krank. Ich holte sogleich einen Arzt; er verschrieb etwas, und wir mühten uns die ganze Nacht ab und quälten das kleine Wesen mit der widerwärtigen Arznei, aber am andern Tage erklärte der Arzt, es sei nichts mehr zu machen, und erwiderte auf meine Bitten – übrigens waren es wohl mehr Vorwürfe – mit edler Friedfertigkeit: »Ich bin nicht Gott.« Das Zünglein, die Lippen und der ganze Mund der Kleinen hatten sich mit einem dünnen, weißen Überzug bedeckt, und sie starb noch an jenem Abend; die großen schwarzen Augen hielt sie auf mich gerichtet, als ob sie schon alles verstünde. Ich begreife nicht, daß es mir nicht in den Sinn kam, die kleine Leiche photographieren zu lassen. Na, ob man es glaubt oder nicht, ich habe an jenem Abend nicht geweint, sondern geradezu geheult, was ich mir früher nie gestattet hatte, und Marja Iwanowna sah sich genötigt, mich zu trösten, und es war wieder kein Beiklang von Spott dabei, weder von ihrer noch von seiner Seite. Der Tischler fertigte einen kleinen Sarg an; Marja Iwanowna verzierte ihn mit einer Rüsche und legte ein hübsches Kissen hinein; ich aber kaufte Blumen und bestreute das Kindchen damit: so trugen wir mein armes Grashälmchen fort, das ich, ob man's glauben will oder nicht, bis auf den heutigen Tag nicht habe vergessen können. Bald darauf aber gab mir dieses plötzlich eingetretene Ereignis doch Anlaß zu sehr ernstem Nachdenken. Allerdings war mir Rinotschka nicht teuer zu stehen gekommen: alles in allem, mit dem Särglein, der Beerdigung, dem Arzt, den Blumen und der Zahlung an Darja Rodiwonowna, hatte ich dreißig Rubel ausgegeben. Dieses Geld brachte ich bei der Abreise nach Petersburg durch Einsparungen an den vierzig Rubeln Reisegeld, die mir Wersilow geschickt hatte, und durch den Verkauf einiger Sachen vor der Abreise wieder ein, so daß mein ganzes »Kapital« unangerührt blieb. ›Aber‹, dachte ich, ›wenn ich solche Seitensprünge mache, werde ich nicht weit kommen.‹ Aus der Geschichte mit dem Studenten hatte sich ergeben, daß die »Idee« einen für andere Eindrücke stumpf machen und von den wirklichen Geschehnissen abziehen kann. Aus der Geschichte mit Rinotschka ergab sich das Gegenteil: daß keine »Idee« imstande ist, einen (wenigstens gilt das von mir) dermaßen mit sich fortzureißen, daß man nicht plötzlich vor irgendeinem packenden Ereignis stehenbleibt und ihm auf einmal alles opfert, was man schon in jahrelanger Arbeit für die »Idee« getan hat. Und nichtsdestoweniger waren beide Schlußfolgerungen richtig.
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