Sybille kommt allein nicht mehr herum. Micha muss mit anpacken. Sybille ist die gute Seele im Haus, jedenfalls von Mittwoch bis Sonntag, immer nachmittags. Micha führt sein Tablett wieder mit sicherer Hand. Sybille war schon früher da, zur Zeit des Alten. Hat ihr damals wohl einige Nachteile gebracht. Andere Angebote hatte sie gehabt, eine Weile lang: Weg von dieser Insel, auf der auch heutzutage nur drei Monate im Jahr richtig was los ist. Könnte in Warnemünde oder sonst wo gelandet sein, die Sybille. Micha ist froh um sie.
Micha schneidet einen neuen Kuchen an. Zuckerstreusel bedecken ihn. Den mag er selbst. Die Äpfel drin sind umschlossen von einer Schicht cremigen Sahnepuddings, der mit gebacken wurde und eine leicht feste Konsistenz bekommen hat. Micha wagt nicht mehr zu naschen als den Krümel, der neben das Blech gefallen ist. Er schiebt drei schöne Stücke auf die bereit stehenden Teller. Micha: wieder ganz in seinem Element. Vergessen sind die trüben Gedanken von eben. Sybille ruft, sie brauche noch ein viertes davon. Bevor sie es holen kann – sie nimmt noch den Ruf nach einem weiteren Kaffee wahr, “aber bitte nur eine Tasse” –, hat Micha schon die betreffenden Gäste versorgt. Bald ist es sechs Uhr geworden. Die Stühle leeren sich, Sybille und Micha können selbst einen Schluck nehmen. Beide schauen sich an, sie lächelt, kurz.
Micha denkt an seinen Strand. Aber heute wird er nicht mehr hingehen. Nicht den steilen Hang hinuntergehen, den er der glatten Holztreppe vorzieht, deren Stufen die Schritte im stählernen Gerüst widerhallen lassen. Micha liebt es dagegen, den Schwung seiner Tritte direkt im Sand auslaufen zu lassen. Heute jedoch nicht. Ihm ist Anderes in den Sinn gekommen. Er spürt ein Prickeln auf der Haut, ist wieder ein wenig aufgeregt, aber diesmal macht ihn das nicht unglücklich – im Gegenteil. Warum nur hat er dieses Gefühl nicht schon viel eher entdeckt? Er will Sybille darauf ansprechen – später, wenn alles abgespült ist und wirklich Ruhe eingekehrt ist.
S. und Zitzsche haben sich getrennt. Jetzt ist S. auf sich allein gestellt – endlich: “Anerkannte Eigenständigkeit”, ein “operatives Privileg” nennt sich das. Major Z. hat ihn an der Abzweigung rausgelassen, wo sich der Fahrweg in die beiden Richtungen Wuntlow und Wuntlower Senke teilt. Zitzsche selbst ist zum alten Dorf weitergefahren, wahrscheinlich hält er aber vorher an oder sucht sich jenseits der verlassenen Häuser ein Versteck für das geländegängige Auto.
Viel gesagt hat Zitzsche nicht mehr. Hat lediglich etwas von “unbedingt genau beobachten” und “Nummern merken” gemurmelt. Nur einmal wurde er deutlich undeutlich: “Im Zweifelsfall müssen Sie sich bis Berlin durchschlagen – Meldung machen – aber bloß nicht in der Normannenstraße, sondern direkt beim “Heinz ohne Karl” im Verteidigungsministerium – und bloß keinen Funkverkehr – man kann nie wissen, wer mithört!”
Bis zur Wuntlower Senke sind es noch drei Kilometer. S. hat den Weg verlassen, hält sich am dichten Buschwerk oder wo die Blätter der Bäume tief herabreichen. Alle zehn, zwanzig Meter hält er inne und lauscht kurz. Dann streift er durch landschaftlich typische Kiefern. Bald wird es lichter, der Waldrand naht. An der obligatorischen Brandschneise macht S. Halt. Dieser schmale, ausgepflügte Streifen ohne Bewuchs im märkischen Sand ist gern ein paar Meter von Straßen oder anderen Nutzflächen zurückversetzt. Kleine Triebe versuchen, ihn wieder zu erobern. S. muss jetzt noch vorsichtiger sein. Er bewegt sich in gebückter Haltung voran. Als er die ersten Flugzeughallen des Fliegerhorstes sieht, geht er in die Hocke.
Da ist auch schon der doppelte Stacheldrahtzaun. Minen gibt es hier keine, das weiß S. – er wird zur langsamen Schildkröte auf dem Bauch. Er hat sich Zeit zu nehmen. Seine Gedanken kreisen um den Auftrag. Bis vor kurzem wurde die Wuntlower Senke von Fliegern der Nationalen Volksarmee der DDR und russischen Kampfpiloten gemeinsam genutzt. Seit einem Monat beanspruchen die Sowjets das Gelände allein für sich. Nur: Jäger sind seitdem keine mehr aufgestiegen. Das hätte die Einheit von Leutnant S. gehört. Und Ostberlin scheint darüber also beunruhigt zu sein.
Eben ist eine schwere Frachtmaschine gestartet. S. nahm die Motoren bereits wahr, als sie angelaufen sind. Den Lärm jetzt nutzt er aus, um schnell an einem Wachturm vorbei zu kommen. Er muss unbedingt auf die kleine Anhöhe im Südwesten der Anlage gelangen. Denn die Flugzeuge starten meistens in Richtung Osten; im Augenblick kann S. noch nicht viel erkennen. Zitzsche wird wahrscheinlich gerade im Norden herumschleichen.
Die Sinne von S. schweifen nicht ab, dazu ist er viel zu aufmerksam. Aber die das angespannte Lauschen störenden ernsten Erwägungen vertreibt der Leutnant mit seiner Phantasie. Er hat sich angewöhnt andere Begebenheiten auszumalen, während er unterwegs ist. Unwichtiges lenkt ihn weniger ab.
Im nur von einer dünnen Humus-Schicht abgedeckten Sand ist die Spur eines Fuchses zu entdecken – quasi direkt vor der Nase des sich vorwärts Pirschenden. Hund müsste er sein, denkt S., dann könnte er auch sein Riechen gezielt einsetzen. Als Kind hat er diese Tiere immer bewundert. Die Art und Weise, wie sie ihre Umwelt erkunden, fasziniert ihn. Die gesamte Kreatur besteht dann eigentlich nur noch aus Nase; ist gefangen von den Eindrücken – und doch ganz frei: nichts andres zählt. Ob Hunde und Menschen sich wirklich verstehen?
S. hat zwar schon sehr früh festgestellt, dass jede Person anders riecht. (Ist ja schließlich meist nichts Negatives dabei.) Aber eine anerkannte Rolle spielt das in der Gesellschaft nicht. Auch die sozialistische Volksgemeinschaft ist da nicht anders. (Wo eben jede Toilette kommunistisch gleich, also gleich schlimm nach diesem unsagbaren Putzmittel riecht.) S. hat es stets bedauert, dass das Bestechendste am Menschen so selten zum Zuge kommt. Als er sich einmal im Kreis von Verwandten entsprechend äußerte, rief das komischerweise großen Unwillen hervor. Das einzige Mal, bei dem sein Riech-Bedürfnis positiv auffiel, war bei Ulrike. Ulrike war eine Klassenkameradin, in die er sich verliebt hatte. Als er an ihrem herrlich duftenden Nacken roch, sagte sie, das kitzle angenehm prickelnd. So ganz hat wohl auch sie ihn nicht verstanden.
S. muss oft an die Schulzeit denken. Denn im Schlaftrakt der Solitärseinheit riecht es fast genauso wie früher – und wie gesagt – nach diesem seltsamen, weit verbreiteten Putzmittel, das dem Uringeruch ähnelt, den es doch vertreiben soll. Ulrike hatte dagegen etwas echt Eigenes, was er genossen hatte! Natürlich gab es die Sprüche der anderen Jungs, wo was wie an den Mädchen schmecken würde. Aber riechen? Als er eines schönen Nachmittags seinen Kopf gemütlich-genüsslich in ihren Schoß gelegt hatte und ihn mit der Zeit auch ein wenig darin versenkte, bot sie sich ihm an. Ihre Hände rochen ebenfalls gut, als sie seinen Kopf streichelte. Aber er konnte nicht richtig etwas mit dem, was sie genau wollte, anfangen – und sie danach nichts mehr mit ihm.
Nach der Schulzeit kam sofort der Militärdienst. Bei einer Paradevorstellung fragte ihn der damalige Verteidigungsminister nach allerlei und aus für ihn unerfindlichen Gründen dann auch noch nach dem Herkunftsort seiner Großeltern. Weil es der selbe war wie beim prominenten Befehlshaber, musste S. zu den Solitären. Seither hat er nicht mehr viele Mädchen oder Frauen getroffen. Aber bei den geheimen Aufträgen jede Menge an interessanten Gerüchen. Er hat sogar etwas Neues hinzu gewonnen: Das Hören ist ihm ebenso wichtig geworden wie das Riechen. Hören und Hören ist schließlich nicht das Selbe. Und im Gegensatz zum Riechen wird das Hören bei den Solitären gefördert.
S. ist da, wo er hin wollte. Er liegt ab sofort wie erstarrt auf der Anhöhe, hält mit ruhiger Hand seinen Feldstecher. Konkurrenz machen ihm die quirligen Ameisen. Ab und zu beißt eine. Hier gibt es einiges in der Luft knapp über dem Boden fein Verteiltes zu hören und zu riechen – aber jetzt ist das Schauen angesagt.
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