Will Hunt
Expeditionen ins Reich der Erde
Aus dem Englischen von
Anke Caroline Burger
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»Underground« bei Random House, New York.
© Will Hunt 2019
© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2021
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Tony Watson / Arcangel
Umschlaggestaltung: Robert Gigler, München
eISBN 978-3-95438-130-2
Für meine Eltern
Die Natur liebt es, sich zu verstecken . HERAKLIT, Fragmente
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
Bildnachweis
Es gibt eine andere Welt, aber sie ist in dieser .
PAUL ÉLUARD
Hinweise auf den Untergrund findet man überall. Man tritt aus der Haustür und spürt unter den Füßen das Dröhnen aus U-Bahn-Tunneln, Stromkabeln, Wasserleitungen und Rohrpoströhren, alle in Schichten übereinanderliegend und miteinander verwoben wie Fäden auf einem riesigen Webstuhl. Am Ende einer ruhigen Nebenstraße sieht man Dampf aus einem Entlüftungsschacht steigen, vielleicht aus einem versteckten Tunnel, wo Obdachlose in einem selbst gebauten Unterschlupf hausen, oder aus einem geheimen Bunker mit bombensicheren Betonwänden, in den sich die Elite beim Weltuntergang flüchten wird. Bei einem ausgedehnten Spaziergang durch friedliches Weideland fährt man mit der Hand über einen grasbewachsenen Hügel, unter dem vielleicht das uralte Grab einer Stammesfürstin verborgen liegt oder die Fossilien eines urzeitlichen Riesentiers mit langem Zackenschwanz. Man wandert einen schattigen Waldweg entlang, legt das Ohr an den Boden und hört das Krabbeln von Ameisen, die eine unterirdische Miniaturstadt mit zahllosen gewundenen Gängen bauen. Auf einer Bergtour riecht man ein erdiges Aroma, das aus einem schmalen Spalt aufsteigt – Hinweis auf einen großen Hohlraum, dessen Wände vielleicht mit prähistorischen Kohlemalereien verziert sind. Auf Schritt und Tritt spürt man ein Beben aus großer Tiefe, wo gigantische Felsmassen sich aneinander reiben, sich verschieben und die Erde zum Wanken und Schaudern bringen.
Wäre die Erdoberfläche durchsichtig, verbrächten wir ganze Tage auf dem Bauch liegend, um hinunter in die vielen Schichten des unterirdischen Terrains zu starren. Aber für uns Oberflächenbewohner, die in der sonnenhellen Welt ihrem Leben nachgehen, ist und war der Untergrund unsichtbar. Unser Wort für die Unterwelt, Hölle , ist hergeleitet von der protoindoeuropäischen Wurzel kel- , die »verhüllen« bedeutet. Das altgriechische Wort Hades heißt »der Unsichtbare«. Wir verfügen heutzutage über moderne technische Hilfsmittel wie Georadar und Magnetometer, um die Welt zu unseren Füßen anschaulich zu machen, aber selbst die besten Bilder wirken neblig und unscharf, und immer noch spähen wir wie Dante mühsam in die Tiefen: »Ob ich den Blick auch schickte tief zum Grunde, so schwarz blieb der, so neblig allerseiten, dass ich nichts unterschied in weiter Runde.« Der Untergrund ist die abstrakteste Landschaft des Planeten, und immer mehr Metapher als konkreter Ort. Wenn wir von »Untergrund« sprechen – ein illegaler Rave, eine unentdeckte Künstlerin, eine Untergrundbewegung –, dann beschreiben wir im Allgemeinen keinen Ort, sondern einen Zustand: etwas Verbotenes, Unausgesprochenes, in jedem Fall etwas, das sich jenseits des Bekannten und Gewöhnlichen befindet.
Als Augenkreaturen – unsere Augen, schrieb Diane Ackerman, sind »die großen Monopolisten unserer Sinne« – vergessen wir den Untergrund. Wir sind komplett oberflächenfixiert. Wir feiern die Pioniere, die immer weiter hinaus und höher hinauf streben: Wir sind über die Mondoberfläche gehüpft, haben Messfahrzeuge in Marsvulkane gesteuert und elektromagnetische Stürme im fernsten Weltall aufgezeichnet. Das Weltinnere ist im Vergleich dazu viel leichter zu erreichen – aber weniger erforscht. Die Geologen glauben, dass weltweit über die Hälfte aller Höhlen noch unentdeckt tief in der Erdkruste versteckt liegen. Die Entfernung von unseren Füßen bis zum Mittelpunkt der Erde ist nicht weiter als eine Reise von New York nach Paris, und trotzdem ist der Erdkern eine Black Box, eine Gegend unseres Planeten, deren Existenz wir in blindem Glauben akzeptieren. Wir sind noch nicht weiter unter die Erde vorgedrungen als die 12.262 Meter der Kola-Bohrung in der russischen Arktis – das ist weniger als ein halbes Prozent des Wegs bis zum Erdmittelpunkt. Der Untergrund ist eine Geisterlandschaft, die sich überall unter unseren Füßen ausbreitet und sich doch stets dem Blick entzieht.
Aber ich wusste schon als Kind, dass die Unterwelt nicht immer und nicht für alle unsichtbar war – für bestimmte Menschen hatte sie sich geöffnet. Im alten D’Aulaires Book of Greek Myths meiner Eltern – der amerikanischen Variante von Schwabs Sagen des klassischen Altertums – las ich, dass Odysseus, Herakles, Orpheus und andere Helden durch schroffe Spalten in die Erde hinabgestiegen waren, den Styx mithilfe des Fährmanns Charon überquert, den dreiköpfigen Höllenhund Cerberus abgeschüttelt und das Schattenreich des Hades betreten hatten. Von all diesen Helden begeisterte mich Hermes am meisten, der Götterbote mit Flügeln an Helm und Sandalen. (Hermes trug den wunderbaren Beinamen Psychopomp , was so viel wie »Seelenbegleiter« bedeutet.) Während andere Götter und Sterbliche den kosmischen Gesetzen gehorchen mussten, bewegte er sich mühelos zwischen Licht und Dunkel, unten und oben. Hermes – den ich zum Schutzheiligen meiner eigenen Exkursionen in den Untergrund ernannte – war für mich der Inbegriff des unterirdischen Entdeckungsreisenden, der die Dunkelheit mit Klarheit und Anmut durchmaß, die Unterwelt erkannte und den vergrabenen Schatz ihrer Weisheit zu heben wusste.
In dem Sommer, in dem ich sechzehn wurde und meine Welt klein und vertraut wie meine Fingerkuppe war, entdeckte ich einen verlassenen Eisenbahntunnel, der unter unserem Viertel in Providence, Rhode Island, hindurchführte. Mein Erdkundelehrer erwähnte den Tunnel zum ersten Mal, ein kleiner, bärtiger Mann, Otter hieß er, der jede versteckte Furche in der neuenglischen Landschaft kannte. Der Tunnel war für eine kleine Güterverkehrslinie gebaut worden, erzählte er mir, aber die gab es schon lange nicht mehr. Jetzt verfiel er, war voll mit Schlamm und stinkendem Müll und Gott weiß was sonst noch allem.
Eines Nachmittags fand ich den von einem dichten Gebüsch hinter einer Zahnarztpraxis verborgenen Eingang. Er war mit Schlingpflanzen überwuchert, und das Datum der Erbauung – 1908 – war im Beton über der Einfahrt verewigt. Der Zugang war von der Stadt mit einem Metalltor verschlossen worden, aber jemand hatte eine kleine Öffnung hineingeschnitten: Zusammen mit ein paar Freunden kroch ich in die Tiefe. Die Strahlen unserer Taschenlampen durchkreuzten das Dunkel. Mit den Füßen blieben wir im Schlamm stecken, die Luft war feuchtwarm. Von der Decke hingen perlweiße, warzenartige Stalaktiten, an denen Wasser herunter- und uns auf die Köpfe tropfte. In der Mitte des Tunnels machten wir eine Mutprobe und schalteten die Taschenlampen aus. Als alles um uns herum in Finsternis versank, stießen meine Freunde Freudenschreie aus, um den Hall ihres Echos zu hören, aber ich hielt den Atem an und stand wie angewurzelt da – als könnte ich bei der kleinsten Bewegung abheben und davonschweben. An diesem Abend kramte ich zu Hause einen alten Stadtplan von Providence hervor. Ich verfolgte mit dem Finger, wo wir den Tunnel betreten hatten und wo er auf der anderen Seite wieder herauskam. Ich blinzelte: Der Tunnel führte fast genau unter meinem Elternhaus hindurch.
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