“Haben Sie Ihre Waffen dabei, Leutnant S.?”
Was soll diese Frage? Die Mitglieder dieser Einheit haben immer ihre kleinen Waffen dabei, Revolver und Fangmesser. Wo es größere versteckt gibt, ist jedem bekannt – wenn es sein muss. Die Solitäre sind die einzige Einheit in der DDR, die ständig unter scharfen Waffen steht. Und die einzige mit durchgehend Faustfeuerwaffen, besonders merkwürdig angesichts der knappen Zahl der Revolver im Staat. Selbst hohe Offiziere anderer Einheiten tragen meist nur leichte Pistolen.
Warum hatten die mich eigentlich für diese Einheit bestimmt? Die Frage verblasst sofort hinter der nächsten, die für S. schon eine Feststellung ist: Zitzsche ist der einzige ohne Buchstaben-Kürzel. Honecker selbst kam auf die ruhmreiche Idee, den vollständigen Namen bei einer Ehrung zu verraten.
Die Soldaten werden in dieser Einheit mit ihrem Rang angesprochen, obgleich es nur zwei gibt: den des Leutnants und den des Majors; vielleicht, weil die Initiale doch zu wenig hergibt, um einen anständigen Befehlston hervor zu zaubern. S. weiß gar nicht, welche Namen sich hinter den einzelnen Initialen verbergen. Nur noch bei einem, T. IV, Talkes – war diesem am Anfang seiner Zeit rausgerutscht. Streng verboten natürlich, hätte ihm Ärger eingebracht, wäre es herausgekommen. Deswegen wohl auch diese Art von dankbaren Freundschaftsbekundungen, die wahrscheinlich gar keine Freundschaft darstellen – keine darstellen dürfen. Schließlich haben zu Beginn der Zeit hier alle nichts anderes geübt, als bei überraschend hervorgerufenen Reaktionen nicht mit dem eigenen Namen zu antworten. Allein wurde das selbstverständlich geübt, nur mit dem Ausbilder von einer anderen Gruppe. Und allein für sich sollen auch die Hirne mit all ihren Gefühlen bleiben.
Die Waffen dabei, was für eine Frage. “Jawohl, Major Z.!” Der Major sieht kurz zu ihm herüber – die Ironie im Aussprechen des Kürzels war unüberhörbar und zudem sitzt der Major als Vorgesetzter ausnahmsweise selbst am Steuer. S. hatte einen kleinen Moment mit der Antwort gezögert. Er kam ihm länger vor. Der Major schaut aber schon längst wieder auf den Fahrweg. Die Unebenheiten und eine Kurve haben die Antwort verzögert, denkt dieser wohl.
“Wissen Sie, wohin wir fahren, Leutnant?”
“Jawohl, Herr Major.”
“Wohin?”
“Zum Fliegerhorst!”
“Nein!”
S. schweigt.
“Doch, Sie haben Recht, aber nur bis zur Abzweigung nach Wuntlow; dann nehmen wir einen kleinen Umweg, müssen noch irgendwo unbemerkt parken.”
So viel Erfahrung hat S. schon gesammelt: Bei einem Auftrag in dieser Einheit geht es immer irgendwo hin, aber nur fast; und danach geht es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit genau woanders hin, bloß nicht mehr zu zweit. Und etwas weiteres hat S. bereits gelernt: Er muss immer kundtun, im Groben informiert zu sein – aber er darf niemals zu viel wissen.
S. spürt auf einmal Lust an seiner Aufgabe mitzukommen. Heute scheint es keine bloße Übung zu geben – heute wird richtig geübt. S. ist neugierig geworden. Und seine augenblickliche Ausgangsstellung macht ihm bewusst Spaß. Er kann dem Volk der DDR wieder einmal gehorsam und selbstständig zugleich dienen – in einem System, dessen humanistische Ader er leider noch nicht richtig erkannt hat (aber das liegt wahrscheinlich an ihm). S. dient an sich gerne – und gerne auch gehorsam, aber die Selbstständigkeit ist ihm ebenfalls wichtig. Denn: Wenn er allein ist, kann er für sich entscheiden, wie er am besten gehorsam oder so ähnlich dienen kann.
Er war nicht einverstanden damit gewesen. So wurde die Versammlung dann auch nicht in seinem Café abgehalten. Jetzt sind sie ihm böse, seine Kollegen in diesem Teil der schönen Insel an der Ostsee. Er hat das Gegenteil von dem erreicht, was er immer wollte: allen alles recht zu machen, nie stark aufzufallen. Dabei ist er nach wie vor ihrer Meinung. Bloß der Ort, der Ort ihres Protestes sollte nicht sein Café sein. Schön, es hätte sich bestens geeignet, um diesem Neuen, diesem Fremden direkt gegenüber mit seinem riesigen, restaurierten Nobelschuppen zu zeigen, wo es hier lang geht. Dass sie es sich nicht gefallen lassen, zu Beginn der Saison die Urlauber mit Dumpingpreisen weglocken zu lassen. Alle wissen, wie so etwas endet. Wenn dann genügend ihre Häuser dicht machen mussten, ziehen die Preise wieder an; und zwar auf Westniveau, wenn nicht sogar noch höher.
Die Presse hatte sich schon angemeldet, sogar der Bürgermeister hatte Verständnis gezeigt – hatte nicht mehr nur auf vordergründig potente Geldgeber von außen geschielt. Aber Micha sagte Nein! Im letzten Moment. So war die Sache im Sande verlaufen.
Nun hat Micha es vor allem dem Neuen recht getan. Denn die Besucher des Ortes haben bisher von all den Diskussionen nichts mitbekommen. Die wohnen vorwiegend in den Hotels bei den Dünen, kommen hierher, in den alten Ortskern, nur für jeweils kurze Zeit. Würden sie sich überhaupt für die Aktion interessieren? Nächstes Jahr machen die sowieso ganz woanders Urlaub, denkt Micha. Gewonnen hat er durch die Geschichte einen schlechten Freund. Seine neue Sympathie hat der Fremde gleich am nächsten Morgen nach der geplatzten Versammlung gezeigt: “Wir zwei in dieser Straße müssen doch zusammenhalten!” Was er damit wohl meinte?
Micha steht im Gästeraum. Das Kännchen eben wäre ihm fast aus der Hand gerutscht. So unsicher ist Micha schon lange nicht mehr gewesen. Richtige Angst überfällt ihn manchmal. Hier echte Freunde zu gewinnen, ist in der für alle schwierigen Zeit nicht leicht. Ihm ist es inzwischen gelungen, und das, obwohl sein Erbe nicht unumstritten war. Noch über weite Strecken, seit er sich hier bewegt, ist gemunkelt worden, er gehöre gar nicht richtig zur Familie des Alten: sei nur der uneheliche, vielleicht sogar ein untergejubelter Sprössling – denn “offizielle” Kinder hatte der Alte in seiner doch recht langen Ehe gar keine gehabt. Jedoch: Andere, nicht einmal weiter entfernt verwandte Erben hatten sich nie gemeldet.
Was die Leute am Ort schließlich beruhigt hat: Der Alte war der einzige, der bis zur Wende auf eigene, wenn auch kleine Rechnung wirtschaften konnte. Von diesem Vertrauen zehrt auch Micha. Ansonsten ist ihm selbst nicht klar, warum gerade er gewinnend auf andere Menschen wirkt. Vielleicht liegt es daran, was eben eine Kölnerin am Tisch zu ihrem Mann sagte. “Zurückhaltend wie alle hier, aber angenehm – irgendwie gar kein Norddeutscher.” Micha muss lächeln. Einen Moment später spannen sich seine Nackenmuskeln, er wendet sich den anderen Gästen zu, die sein Café füllen. Er versucht locker zu sein, seine Hände zu entkrampfen. Innerlich macht sich ein wenig Ruhe breit. Die braucht er auch. Er will diesen Sommer nicht nur überleben, er will wieder mit den anderen gut auskommen.
Fühlt er sich eigentlich wohl an diesem Ort? Diese Frage schießt ihm auf einmal durch den Kopf. Als ob sie ganz neu wäre. Wohl, ja richtig wohl fühlt Micha sich am frühen Abend, das weiß er ganz sicher. Wenn er für kurze Zeit an den Strand kann, weil sein Café die erste große Aufmerksamkeit des Tages verliert. Wenn er die Schuhe auszieht. Den Sand spürt. Die immer noch heiße Sonne auf die Haut lässt. Dann bewundert Micha die Kinder, die sich hartnäckig weigern, ihre Spielsachen zu sammeln, weil es nach dem Willen der Eltern woanders hingehen soll. Für Micha ist dieses Verhalten geradezu exotisch. Geweigert hat er sich bei seinen Eltern – wie er meint – immer nur, indem er Anweisungen schnell und gut ausführte und dann seine Ruhe genoss, in Gedanken auf seinen Stern und Planeten ging.
Das ist es: Warum nur hat Micha nicht sein Café den Kollegen zur Verfügung gestellt? Er hatte Angst, dass danach nicht die Belohnung, die erwartete Ruhe eintreten würde. Dass er danach nicht mehr den nötigen Abstand halten und zugleich als liebenswert gelten könnte. Dass da keine heile Welt zum innerlich Abtauchen mehr bliebe. Dass da etwas nicht nach wenigen Tagen schon gegessen wäre. Diese Angst hatte Micha. Diese Angst hat er jetzt nicht mehr. Oder doch? Wird er die Kontrolle über die Dinge am Ort, soweit sie ihn betreffen, behalten? Jetzt würde er jedenfalls auf einmal gerne am Strand sein, und zwar sofort. Aber es ist erst sechzehn Uhr, beste Kaffeezeit.
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